Dessen sei aber gewiss: Du musst ein anderes Herz bekommen, das Gott über alles liebt und allen Geschöpfen selbstverständlich wohlwollend zugeneigt ist. Sonst ist alles, was du von Religion, Humanität oder Menschenliebe sprichst, noch ein ziemlich leeres Geschwätz. Und der Materialismus, der das menschliche Wesen auf den natürlichen Egoismus begründet, ist dann auch für dich das wahrheitsgetreuere System, ganz gleich, ob du kirchlich gesinnt bist, oder nicht. Nur dieses »andere« Herz ist dem Egoismus überlegen. Aber kein Mensch hat es von Natur aus und kann es sich erfahrungsgemäß auch durch keinerlei Anstrengung des Denkens oder Wollens verschaffen. Das ist der Grund, weshalb man bei einiger Menschenkenntnis und Lebenserfahrung eine Befreiung oder »Erlösung« durch eine außerhalb des Menschen stehende Macht annehmen muss , eine Macht, die im Übrigen schon im Alten Testament vielfach zugesagt ist.
Jes 43 10 Jes 65 17–24 Jes 66 12–14 Jer 24 7 Jer 31 1–14 Jer 31 33 Hes 11 19–20 Hes 36 26.
Erklären kann man's dir nicht, wenn du es nicht erfahren hast. Aber erfahren kann es jeder.
Ein indisches weises Wort sagt zwar:
Nichtwissen wird zur Hälfte zerstört durch freien Gedankenaustausch, die Hälfte des Verbliebenen wird beseitigt durch die Hinwendung zur Philosophie, das Übrige verschwindet im Licht der Selbstbetrachtung.
Versuche es meinethalben; aber ich sage dir im Voraus: Es wird dir noch immer ein starker Rest von Unbefriedigung übrig bleiben auf diesem Weg.
Lass einmal versuchsweise für eine Weile das Kritisieren ganz. Ermutige und unterstütze überall nach Kräften alles Gute, und ignoriere das Gewöhnliche und Schlechte als etwas Nichtiges und Vorübergehendes. Vielleicht gelangst du damit zu einem befriedigenderen Leben. Sehr oft liegt alles gerade daran .
Das Leben jedes Menschen trägt so viel Mysteriöses in sich, dass man in gewisser Hinsicht behaupten kann, es gebe keine ganz wahren Biographien und könne keine geben. Ich wenigstens wüsste nicht, wie ich manche wahre und wesentliche Erlebnisse der vollen Wahrheit gemäß und dennoch für andere verständlich darstellen sollte.
Ein einziges Mal, in einer schlaflosen Krankheitsnacht, ist es mir in Gedanken möglich gewesen. Es war aber so, als ob ein ganz anderer Geist die Worte bildet. Und ich wäre am Morgen nicht mehr imstande gewesen, es niederzuschreiben.
Ein Schriftsteller sagt mit Recht, es komme eigentlich bloß darauf an, auf dem rechten Weg zu sein; alles andere gebe sich dann von selbst.
Man kann auch sagen: Es ist bloß wichtig, den Geist in sein Leben hinein zu bekommen, den das Evangelium den heiligen nennt; der tut dann alles Weitere.
So kann man auch noch weiter sagen: Mache zeitweise alle religiösen Bücher zu außer der Bibel, und selbst in dieser lass alles, außer den Worten und Taten Christi. Das andere ist zur Seligkeit nicht nötig, kann aber zeitweise wieder eine brauchbare Unterstützung oder Anregung sein.
Es ist bemerkenswert, wie das Evangelium allein auf arbeitende Leute vollkommen wirkt. Dem tätigen Menschen ist es eine beständige Erquickung auf seinem Weg. Ein Müßiggänger, auch ein geistlicher, muss dagegen noch etwas dazu haben, fortwährende Gemeinschaft, Feste, äußere Kirchlichkeiten aller Art — lauter Dinge, die der andere zur Not ganz entbehren kann.
Gnadenwahl
Der du mich zu deinem Werke
Auserwählt von Ewigkeit,
Zur Erkenntnis gib die Stärke;
Mache tätig und bereit.
Was du forderst, lehre wagen;
Was du tust, tu ganz und groß;
Nur im Glauben kann man tragen
Ein so schönes, schweres Los.
Die Mehrzahl der Menschen flieht beständig vor der Arbeit und sucht einen Ersatz für ihre Resultate in Kapitalansammlung, vorteilhaften Beziehungen oder bequemen Lebensstellungen zu gewinnen, das heißt in der Anstrengung anderer für sich selbst. Sie befinden sich aber nicht besser dabei als bei der Arbeit und sind viel abhängiger. Wenige begreifen das frühzeitig genug, wählen aus freien Stücken die Arbeit und sind dadurch die einzigen freien Menschen der Welt.
Wenn man anfängt, alles Unnütze aus dem Leben zu entfernen — und damit muss man anfangen, wenn etwas Rechtes werden soll — dann entsteht eine solche Leere, dass sie nur mit Arbeit auszufüllen ist. Das empfinden viele Menschen instinktiv, und da sie sich nicht für die Arbeit begeistern können oder wollen, so fürchten sie sich vor diesem ersten Schritt und bleiben lieber auf dem alten Weg, den alle Welt geht.
Das Glück des Lebens besteht nicht darin, wenig oder keine Schwierigkeiten zu haben, sondern sie alle siegreich und glorreich zu überwinden.
Kraft entsteht aus der Übung im Überwinden von Schwachheiten.
»Jede Sünde, die du überwindest, überträgt dir ihren Geist, verwandelt in Kraft.« (Robertson)
»Erachtet es für lauter Freude, wenn ihr in mancherlei Anfechtung fallet.« ( Jak 1 2)
Dieser Ermahnung des Apostels während der Anfechtung selbst Folge zu leisten, ist ziemlich schwer, und ich möchte es einigermaßen bezweifeln, ob er diese unbegrenzte Freudigkeit im Augenblick des stärksten Leidens immer selbst gehabt hat. Sogar Christus hatte sie ja nicht; Mt 26 37–38. Wer das immer kann, der ist daher über dieses Leben bereits hinausgewachsen, und die Anfechtungen, die doch nur Prüfungen sind, haben keinen Zweck mehr für ihn.
Den meisten Angefochtenen aber kann man mit einem solchen Spruch gar nicht beikommen; sie sehen ihn oft geradezu als Hohn auf ihr Leiden oder als Mitleidslosigkeit an. Was man ihnen dagegen mit Ernst zumuten kann, ist: nicht stumpf hinbrütend oder gar mit tiefer Verbitterung in ihr Leiden zu versinken, sondern »aufzublicken zu den Bergen, von denen die Hilfe kommt«, wenn es auch nur mit einem einfachen, kurzen Seufzer »Herr hilf mir« ist. Das hilft immer etwas. Und wenn die Seele einmal so weit beruhigt ist, dass sie überlegen kann, dient als weitere Stärkung ein Rückblick auf die vielen vergangenen Prüfungen, die doch alle ihr Ende gehabt haben — oft weit schneller, als es zu erwarten war, und auf wunderbare Weise.
GBG 374 Hebr 10 32–39.
Länger, als es nötig ist, wird ein Mensch oder Volk nie geprüft. Aber es ist bei beiden gut möglich, dass ein Augenblick kommt, von dem ab alles Schmelzen umsonst ist und deshalb auch aufhört. Dann kommt nur noch das Gericht, und auf diesem Wege befinden sich jetzt viele.
Jer 2 19–20 Jer 2 25 Jer 4 22 Jer 6 14 Jer 6 27–30
Auf mittlern Bergesstufen
( Offb 3 8) Gott sei gedankt, die Tür ist offen! Die schweren Riegel sind gesprengt; Ich hab mit »Stillesein und Hoffen« Mich durch das Nadelöhr gezwängt. Mein Herz fasst Mut zum wahren Wollen; Die Seele atmet auf, befreit; Dumpf in der Ferne hör ich grollen Den Donner des Gerichts der Zeit.
Es gehört zweierlei zum inneren Fortschritt: eine Stimme, die zu uns spricht, und ein Ohr, das sie hören kann.
Wenn ich auch sonst keinen Grund hätte, an die leitende Fürsorge eines ganz anderen, denkenden Geistes zu glauben, so wäre es doch diese Erfahrung: Alle für meinen inneren Lebensgang wichtigen Bücher sind mir »zufällig« in den Weg gekommen, während ich aus selbst ausgesuchten sozusagen nichts gelernt habe. Vielleicht nicht, weil nichts darin stand, sondern weil der richtige Augenblick noch nicht gekommen war, um es aufzunehmen.
Die weitaus meisten Menschen haben keine Ahnung von dem Glück und der Freudigkeit, die auf dieser mangelhaften Erde doch zu haben sind, trotz allem, was ihnen entgegensteht.
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