„Aber wir müssen dieses uns auch pflegen, denn ein Kuss macht noch kein uns“, warf er lächelnd ein. „Ein 'uns' heißt, dass wir uns ab und zu mal sehen sollten, oder nicht?" Das war ungeheuer mutig, das war ihm sonnenklar. Und dennoch riskierte er eine dicke Lippe, weil er auf keinen Fall wollte, dass sie nun einfach so ging.
Auch wieder wahr. Damit lag er zwar richtig, doch dieses Gespräch, die ganze Situation überrannte sie plötzlich. Raus hier, weg hier! Ihr Mann suchte sie bestimmt schon, und wenn er sie aus diesem Büro würde kommen sehen, konnte es Ärger geben, großen Ärger, und nicht nur für sie. Das wollte sie auf gar keinen Fall riskieren. Und sie hatte schon viel mehr gegeben, als sie zu geben bereit gewesen war, das Regal war leergefegt wie am Morgen des 24. Dezembers, nichts mehr da, alles ausverkauft.
Aber sie hatte auch mehr bekommen, als sie in ihren kühnsten Träumen erwartet hatte, das Lager der Süßwarenabteilung war mit einem Mal prall gefüllt.
Hektisch wandte sie sich zur Tür um. „Warte“, sagte er und schob sich an ihr durch zur Tür, und diese erneute körperliche Nähe ließ sie innerlich erzittern. Es war Lichtjahre her, seit sie so nah an einem fremden Mann gestanden hatte. Er öffnete die Tür einen Spalt breit und linste in den Flur.
„Komm“, wisperte er ihr zu, und sie huschte nach draußen. Keine zehn Sekunden später kam eine der Ehefrauen, deren Namen sie immer vergaß, aus dem großen Besprechungsraum in den Flur. Sie lächelte Christoph und Kirsten freundlich zu, die sich in Windeseile ihre alten Gläser wieder geschnappt hatten, die Dame war offenbar nichtsahnend, so dass sie wohl niemand vermisst oder ihr Fehlen bemerkt hatte. Kirsten kam sich vor wie ein Teenager, der verbotenerweise den Lehrer geküsst hatte. Sie spürte förmlich die Schuld auf ihren Lippen prangen und schämte sich plötzlich sehr dafür, dass sie so eine leichte Beute für ihn gewesen war. So willig und billig hatte sie sich darauf eingelassen. Was, wenn er nur mit ihr spielte? Und zu guter Letzt vielleicht wie eine Petze zu ihrem Ehemann rannte und dem steckte, wie leicht er sie herumgekriegt hatte?
Nun mach mal halblang, Kirsten, meldete sich ihr Gewissen. Ihr habt euch nur geküsst, mehr ist ja nicht passiert. Herumgekriegt hat er dich nicht.
Noch nicht, trällerte ihr Herz, noch nicht! Und außerdem spielst du hier das Spiel.
Im tiefsten Inneren war Florian erleichtert darüber, wie einfach es gewesen war, seine Frau hier abzuhängen, um mit Sandra ein Stelldichein in dem Büro seines Kollegen Schmidt haben zu können. Sie sah in ihrem Kleid so toll aus, dass es ihm vermutlich körperliche Schmerzen bereitet hätte, wenn er sie heute Abend nicht hätte haben können. Doch das war der neue Florian! Der Florian, vor dem sich die Wege ebneten. Das war wie in diesem Bankwerbespot mit dem freien Weg. Florian brauchte sich nur etwas zu wünschen und es geschah.
Nur beim Orgasmus war es nach seinem Geschmack etwas zu laut zugegangen. Doch da hatte ihm der in den höchsten Quietschtönen jubilierende Kinderchor mit seinem Glo-oh-oh-oh-oh-oh-oh-oh-oh-oh-oh-oh-oh-oh-oh-oh-ria unfreiwillig zur Seite gestanden, denn entgegen seiner schlimmsten Befürchtungen war niemand hereingekommen und hatte das Licht angeknipst, um nachzuschauen, was da los war. Sandra zog sich gerade mit erhitztem Gesicht ihr Kleid wieder zurecht und er knöpfte zufrieden seine Hose wieder zu. Das einzige Problem war das volle Kondom. Wohin damit? Zum Glück stand auf der Fensterbank eine Blume mit zu großem Übertopf, in den ließ er das Kondom fallen. Bei dem Gedanken an Schmitts dummes Gesicht am Montag musste er beinahe laut loslachen.
„Das kannst du doch da nicht reintun!“, zischte Sandra entsetzt.
„Meinst du, der Alte macht einen DNA-Test, um rauszufinden, wer das war? Hier gibt’s heute genug Paare, die das gewesen sein könnten“, lachte er zurück.
Sie zog zweifelnd die Augenbrauen hoch und schüttelte den Kopf.
„Das gefällt mir nicht, Florian, wenn das mit uns rauskommt, dann haben wir jede Menge Ärger am Hals!“
„Das mit uns kommt nicht raus, du wirst sehen“, beschwichtigte er sie.
„Dein Wort in Gottes Ohr!“
Den Rest des Abends hielt Kirsten sich von Christoph fern, um kein weiteres Aufsehen zu erregen. Wie in den früheren Jahren ihrer Anwesenheit gönnte sie sich die eine oder andere Leckerei am Buffet und unterhielt sich tatsächlich ganz nett mit einigen der anwesenden Frauen. Irritiert bemerkte sie die abschätzigen Blicke einer jungen Frau in einem etwas zu kurzen Hauch von einem Kleid, doch sie konnte mit der Dame nichts anfangen und war auch nicht in Stimmung, um sich darüber den Kopf zu zerbrechen.
Immer, wenn Christophs und ihre Blicke sich begegneten, spürte sie ein flaues Gefühl in der Magengegend und wusste in Sekundenschnelle wieder, was sie bereits alles gegessen hatte, weil ihr Mageninhalt durcheinandergewirbelt wurde. Dieses Unwohlsein verstärkte sich exponential, wenn Florian in ihre Nähe kam. Zum Glück absolvierte ihr Gatte nur kurze Stippvisiten an ihrer Seite, um dann weiter wie ein Vogel durch den Raum zu flattern und Konversation zu betreiben, denn in den wenigen Minuten, die sie tatsächlich nebeneinander standen, merkte er nicht, wie daneben seine Frau war.
Sie betrachtete ihn an diesem Abend immer wieder interessiert von der Seite wie ein Studienobjekt: Wie hatte er sich verändert. Aus dem introvertierten Langweiler war ein richtiger Macher geworden, dem die Menschen seiner Umgebung an den Lippen hingen. Sie erkannte ihn kaum wieder, und das verunsicherte sie zunehmend. Wer war dieser Mann? Was dachte er, welche Pläne verfolgte er, welchen Träumen jagte er nach? Sie hätte es nicht sagen können, weil sie es schlichtweg nicht wusste. Gar nichts wusste sie mehr von ihm, zumindest nicht von seinem aktuellen Ich. In seiner Vergangenheit kannte sie sich gut aus, sie wusste genau, welche Größen die Kleidungsstücke an seinem Körper hatten. Aber die Krawatte, die er trug, kannte sie nicht. Dabei ließ er doch sonst stets sie seine Garderobe kaufen. Nun, dann sind diese Zeiten anscheinend vorbei, kein Grund zu jammern. Dennoch bekümmerte die neue Krawatte sie, weil sie ihr wie ein Symbol für die Distanz erschien, die es sich zwischen ihnen häuslich eingerichtet hatte. Ihr Blick suchte Christoph und heftete sich unauffällig an ihn. Die Ehefrau eines Kollegen sabbelte sie mit Kürbisrezepten voll und schwafelte ungebremst von veganer Küche. Sollte sie doch!
Er unterhielt sich mit einem älteren Kollegen namens Schmidt, den hier alle sehr mochten. Schmidt schien von einem seiner legendären Auftritte als Gitarrist in frühen Jahren zu berichten, denn er spielte für einen Augenblick mit verzücktem Gesicht beeindruckend eine Luftgitarre. Kirsten liebte seine Geschichten über sein wildes Leben, das er vor Studienende geführt hatte, aber leider war er viel zu selten anwesend, wenn es etwas zu feiern gab, und dann wurde er umgarnt wie ein Popstar, weil alle wussten, dass man sich mit ihm amüsieren konnte. Und Christoph schien es nicht anders zu gehen, denn er amüsierte sich offenbar blendend über die Leistung seines Gegenübers, der gerade hingebungsvoll pogte. Er bemerkte ihren Blick und sah sie durch den Raum an, ihre Blicke schienen sich miteinander zu verbinden wie zwei Hände, die einander schüttelten. Unauffällig zwinkerte er ihr zu und schenkte ihr ein breites, etwas selbstgefälliges Lächeln, schließlich drehte er sich scheinbar entspannt wieder Schmidt zu, der in der Zwischenzeit von seiner Frau wieder beruhigt worden war und den seine Tanzeinlage von eben nun etwas peinlich zu berühren schien.
Doch Kirsten sah, wie Christophs Hände nervös das Glas umklammert hielten.
Sie freute sich zu gar nicht besonders später Stunde über Florians Angebot, dass sie schon ohne ihn nach Hause fahren konnte. Darauf hatte sie nur gewartet! Artig verabschiedete sie sich, auch von Christoph, per Handschlag, doch als sie ihm die Hand gab, spürte sie die nervöse Feuchtigkeit auf ihrer Haut und die hitzige Wärme an seiner. War das aufregend! Doch Christoph sagte weiter nichts, also ging sie so alleine, wie sie hergekommen war. Im Fahrstuhl lehnte sie sich mit geschlossenen Augen an die Wand und atmete tief ein und wieder aus.
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