Er neigte seinen Kopf zu ihrem, zögerte wieder und – küsste sie.
Ganz zart zuerst. Und sie ließ es in der Tat zu, sie hielt ihm zaghaft stand und knallte ihm keine, wie er es durchaus einkalkuliert hatte. Seine warmen weichen Lippen drückten sich ganz sanft gegen ihre, und er roch so gut. Noch nie hatte jemand sie so sanft geküsst, es war mehr ein Hauch als ein wirklicher Kuss.
Als sie sich nicht sträubte, zog er sie zögernd an sich und positionierte eine Hand vorsichtig in ihrem Nacken, die andere verdächtig dicht und mit etwas festerem Griff oberhalb ihres Pos. Ihre Passivität ermutigte ihn, wenn auch nur ein bisschen, denn schließlich schob sie ihn immer noch nicht von sich und rannte schreiend davon oder traktierte ihn mit den Absätzen ihrer Schuhe.
Und dann wagte sie sich vor, erwiderte seinen zuckersüßen Kuss, der einfach zu süß war, um zu widerstehen, und schmiegte sich vorsichtig an ihn.
In ihr schrillten alle Glocken durcheinander: Was tust du da, du Verrückte?, rief ihr Verstand. Genieß es, sagte ihre romantische Ader. Öffne endlich deine Lippen, mischte ihr Körper sich ein. Und ihr Herz, befreit aus dem finsteren, kalten Verlies der Burg Florian, hüpfte einfach nur vor Freude.
Langsam schob sie ihre Zunge vor und er tat es ihr gleich. So hatte sie seit Jahren kein Mann mehr geküsst und so hatte sie seit Jahren keinen Kuss mehr erwidert. Der Fußboden schien aus Watte zu bestehen. Irgendwie setzte sich der Raum in Bewegung und in ihr wurden drei Sätze mit jeder Sekunde, die verstrich, lauter: DAS IST ER! DAS IST ES! SO MUSS ES SEIN!
Sie zu küssen übertraf alle Erwartungen, die er an den heutigen Abend geknüpft hatte. Das kühnste, was er sich ausgemalt hatte, war eine zugesteckte Telefonnummer gewesen, aber gewiss kein leidenschaftliches Geknutsche in seinem Büro.
Innerlich hallte Jubelgeschrei durch seinen Kopf: „BINGO! Du bist im Spiel!"
Als sie ihre Lippen und Zungen wieder voneinander lösten, schien die Zeit stehengeblieben zu sein. Draußen dudelte hartnäckig die Musik, jetzt war einer dieser gruseligen Kinderchöre an der Reihe und verhunzte Gloria in exselsis deo, und das Stimmengewirr war nach dem gefräßigen Schweigen wieder angeschwollen, der Alkohol lockerte langsam die steifen Zungen.
Doch noch ein anderes Geräusch mischte sich ein in den Reigen, ein lustvolles Stöhnen.
Christoph schien es nicht zu hören, denn er stand nur ganz nah vor ihr mit Spuren von ihrem verschmierten Lipgloss auf seinen Lippen und lächelte sie verunsichert aus seinem erhitzten Gesicht an. Seine Hände hielten Kirsten immer noch fest. Zufrieden merkte er, dass sie beide schneller atmeten.
Doch sie hörte es. Jemand stöhnte, und dieses Stöhnen klang nicht nach Zahnschmerzen. Es holte sie zurück aus dem siebten Himmel auf den harten Tatsachenboden. Und die Realität sah wie folgt aus: Sie in der Firma ihres Mannes eng umschlungen knutschend mit dem Referendar in dessen Büro. Noch Fragen?
„Hörst du das?“
„Was?“
„Dieses Stöhnen!“
Er lauschte angestrengt, dann sagte er: „Ich höre nur diese grässliche Musik!“
Das Geräusch war weg.
„Jetzt höre ich's auch nicht mehr.“
„Das hast du dir bestimmt nur eingebildet“, versonnen strich er ihr über die Wange, er hatte das Gefühl, das nun zu dürfen.
Erst jetzt fiel ihr auf, dass sie immer noch ganz eng beieinander standen. Wenn jetzt jemand hereinkam, brauchte der- oder diejenige keine Brille, um zu sehen, was hier passierte. Also machte sie einen kleinen Schritt rückwärts, um ihn wieder auf Abstand zu bringen, so schwer ihr das auch fiel. Er ließ seine Hände sinken. Ein brennendes Schamgefühl breitete sich in ihr aus.
„Du hast Lipgloss am Mund“, klärte sie ihn verlegen auf und erschrak ein wenig über die abweisende Distanz in ihrer Stimme, denn sie klang mit einem Mal unglaublich arrogant. Er wischte sich schüchtern lächelnd mit dem Handrücken über seine Lippen. Wie jugendlich diese Geste noch wirkte.
„Wir sollten da wieder rausgehen“, schlug sie vor und streckte ihren Rücken durch, bemüht um Haltung. Dabei war sie eben nicht weit davon entfernt gewesen, Dinge zu tun, die sie nicht tun sollte, schon gar nicht hier und nicht mit ihm. Das, was sie getan hatte, war schon viel zu viel gewesen. Sie durfte das nicht, das war nicht in Ordnung.
Innerlich zuckte er voller Enttäuschung zusammen über ihr plötzliches Von-oben-herab. „Ja, das wäre wohl klüger“, presste er hervor. Ein tonnenschwerer Stein machte sich in seinem Magen breit. Sie hatte ihn augenscheinlich nur benutzt, um auf die Schnelle ihr Ego aufzupolieren. Und das war es jetzt.
Sein enttäuschtes Gesicht erfüllte sie mit Kummer und Mitleid. Und ganz plötzlich überkam sie die erschreckende Gewissheit, dass dieser Mann ihr mehr bedeutete als er es sollte. Er sollte ihr einerlei sein, ein Spielzeug höchstens, um sich ein wenig den Alltag zu versüßen, aber er brachte sie stattdessen aus der Fassung, völlig aus dem Gleichgewicht. Er war ihr ganz und gar nicht einerlei, er war ihr wichtig, und das nach einem einzigen Kuss. Ihn nun von sich zu weisen und damit offenbar zu kränken, fiel ihr schwer und tat ihr immens leid, war jedoch unvermeidbar, weil ihre Situation alles in allem schlicht unmöglich war. Wenn sie alleine hier mit ihm gewesen wäre, hätte sie ihn wieder geküsst, um ihn zu trösten. Doch diese Option war ausgeschlossen, denn sie befürchtete, dass sie einen weiteren Kuss nicht schadlos überstehen würde – und das wohl nicht grundlos. Wenn die Tür aufginge... nicht auszudenken. Und noch schlimmer: Wenn sie sich weiter hinreißen ließe, würde sie mit ihm auf oder unter seinem Schreibtisch enden, in jedem Falle aber auf oder unter ihm, und das war schlicht unmöglich. Sie war immerhin keine Ehebrecherin, nur ein wenig frustriert. Aber ein Kuss, meine Güte, ein läppischer Kuss. Das konnte ja mal passieren, erst recht auf einer Weihnachtsfeier in angeschickerter Stimmung. D'accord, aber du hast noch nichts getrunken, meine Liebe. Und du bist benebelt wie ein angefixter Junkie.
Noch immer raste ihr Puls, leider. Aber es hatte sich zu gut angefühlt, um für immer darauf zu verzichten. Schon jetzt war ihr bewusst, dass ihr verfluchter Körper auf der Jagd nach dem nächsten Rausch ihn erneut küssen wollte, denn ihre wackligen Beine sprachen Bände. Untreues Mädchen, untreues, böses Mädchen.
„Was machen wir jetzt?“, fragte sie zögerlich, doch wenn sie sich nun ohne ein weiteres Wort trennten, könnte sie heute Nacht kein Auge zumachen, wohl nie wieder in zahllosen Nächten. „Ich meine mit uns?“ Sie kramte nebenbei aus ihrem Täschchen den Lipgloss heraus und schminkte sich blind den Mund nach, um ihre Unsicherheit zu überspielen.
„Gibt es denn ein uns?“, fragte er vorsichtig.
„Von meiner Seite aus vielleicht“, antwortete sie und klang dabei entspannter als sie es eigentlich war. WAS REDEST DU DA??? Es gibt kein UNS! - Ganz ruhig, nur Marktanalyse, das hat nichts zu bedeuten.
„Nun ja, ich hätte nichts dagegen“, sagte er entschlossen.
Von wegen Marktanalyse!
„Dann sollten wir aber zusehen, dass wir dieses uns vorerst geheim halten.“ Bist du verrückt, Mädchen? Das klingt, als ob du ihn dir als permanenten Liebhaber zulegen möchtest, und nächstes Mal rückt er dir garantiert komplett auf die Pelle. HALLO! Das möchtest du nicht! - Ach nein?
Er nickte. Was hatte er auch erwartet nach einem einzigen Kuss? Dass sie ihn vom Fleck weg gegen ihren Mann eintauschen würde? Aber er würde dranbleiben und auf keinen Fall den edlen Helden spielen und verzichten. Wenn sie es war, die Eine, dann würde er sie nicht wegen eines großkotzigen, backpfeifengesichtigen Ehemanns ziehen lassen, um auf ewig im Ehe-Nirvana vor sich hinzudümpeln. Der Einsatz war hoch, doch der vermeintliche Gewinn übertraf den Einsatz bei weitem. Zwar war er kein Frauenexperte, weiß Gott war er das nicht, doch sein Gespür sagte ihm, dass sich der Einsatz auszahlen würde, denn irgendwie wollte sie ihn genauso wie er sie, das hatte der Kuss offenbart, zumindest in seiner fortgeschrittenen Phase.
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