Die Tür ging nach einer halben Ewigkeit, durchsortierten Ablagefächern, einem aufgeräumten Rollcontainer und natürlich nach unzähligen Weihnachtsliedern einen Spaltbreit auf und sie schlüpfte herein. Durch seine Gedankengänge war er wieder relativ ruhig gewesen, doch nun machte sich die blanke Panik in ihm breit.
„Da bist du ja endlich“, sagte er erleichtert.
„Das war gar nicht so einfach, da wegzukommen“, beteuerte sie.
„Wo ist dein Mann?“, fragte er.
„In seinem Büro mit einer Sekretärin. Er hat mir gesagt, er müsste noch arbeiten.“
Das passte zu diesem furchtbaren Egomanen, dass er seine wunderschöne Frau alleine auf der Weihnachtsfeier stehen ließ, um zu arbeiten.
Für einige Sekunden herrschte ein beklommenes Schweigen zwischen ihnen, weil keiner es wagte, den Anfang zu machen aus Angst, etwas Falsches zu sagen. Hier standen sie nun. Er, der ganz genau wusste, was er wollte, und sie, die nicht verstand, wieso sie genau das unbedingt wissen wollte. Weshalb sie sich dem Reiz ihrer Begegnung nicht entziehen konnte.
„Weißt du“, begann er schließlich vorsichtig, „ich wollte dich eben nicht erschrecken, ich wollte dich generell nicht erschrecken“, korrigierte er sich hastig, „aber ich bin lieber ehrlich und sage dir von Anfang an, woran du bei mir bist“. „Jetzt bloß keinen Fehler machen", fügte er in Gedanken hinzu.
„Du hast mich vollkommen überrumpelt damit, mit allem, was du tust. Ich bin verheiratet, und du solltest nicht solche Sachen zu mir sagen oder mir Küsschen geben und mich umarmen“.
Womit sie zweifelsohne Recht hatte.
„Ich möchte nur, dass du weißt, dass ich dich sehr interessant finde. Sehr, sehr interessant“, fügte er ernsthaft hinzu.
„Interessant auf welche Art?“, fragte sie unsicher zurück.
Oh Gott, sie zwang ihn wirklich dazu, es ihr in aller Deutlichkeit zu sagen, dabei fürchtete er nichts mehr als das. Wenn er die Karten offen auf den Tisch legte, gab es wirklich kein Zurück mehr. Dennoch, er würde es sich niemals verzeihen, diese eine Chance verstreichen zu lassen. NIEMALS.
„Interessant auf eine Art, auf die du nicht interessant für mich sein solltest, weil du ja vom Markt bist. Aber natürlich gibt es mir Hoffnung, wenn du mich nach unserem Treffen beim Geburtstag noch grüßt und mit mir sprichst.“
Du machst ihm Hoffnung, sagt er. Au weia.
„Ich kann das nicht richtig nachvollziehen. Wie definierst du interessant?“ Natürlich konnte sie es nachvollziehen, doch sie wollte es hören. Sie musste es hören. Bei dem Risiko durften keine Fragen offen bleiben, da mussten alle Zweifel vom Tisch sein. Und Gründe für Zweifel gab es zur Genüge.
„Ist das wirklich so schwer zu erraten? Du scheinst dir keinen Begriff davon zu machen, wie attraktiv du bist.“
Sie schwieg, ratlos, fassungslos, ein bisschen aber auch geschmeichelt, erfreut, ermutigt, das Spiel weiterzuspielen, nur um zu sehen, nur um auszutesten. Das war genau genommen nicht allzu schlimm, wenn sie es nicht auf die Spitze trieb. Ein bisschen unfair ist es vielleicht schon, aber nur ein bisschen.
Ihr eisiges Schweigen zwang ihn dazu, weiter auszuholen, als er es eigentlich vorgehabt hatte. Er hatte schon viel zu viel riskiert, um jetzt nicht klarzumachen, was er wollte:
„Ich war letzte Woche hin und weg von dir, und dann kommst du hier heute her und siehst so aus“, er machte eine ausholende Bewegung, die ihre Silhouette nachformte, „und ich könnte dich hier jetzt gleich -“, er stockte und brach ab. In ihm schrie alles Alarm!!! „Junge! Halt deine große Klappe! Erst denken, dann reden! Redeverbot! Absolutes Redeverbot!"
Sie wurde knallrot. Noch nie, noch nie zuvor war ein Mann so offensiv ihr gegenüber gewesen und sie wollte unbedingt hören, was er hatte sagen wollen in diesem letzten Satz, darum fragte sie forschend weiter: „Du könntest mich hier jetzt gleich was?“
Sag nichts Falsches, Christoph, sag nichts Falsches, du kennst sie nicht, das könnte eine Falle sein. Sag auf gar keinen Fall, was du sie jetzt wirklich könntest, was du nur zu gerne tun würdest. Brems, zieh die Leine!
„Ich könnte dich hier jetzt gleich - “, er zögerte.
Sie sah ihm seinen inneren Kampf deutlich an, sie sah, wie er sich schließlich geschlagen gab, mit hängenden Schultern und seine Nasenwurzel mit Daumen und Zeigefinger bearbeitend, bekannte: „Küssen, während dein Mann nebenan sitzt.“ Nun war es raus, und er war froh, das nur das unschuldige Verblein küssen aus seinem Mund gekommen war. Gleichzeitig mussten seine Ohren glühen. Glücklicherweise gab es in diesem Büro keinen Spiegel.
„Das soll wohl ein Scherz sein!“, gab sie brüsk zurück.
„Das ist kein Scherz! Ich war schon letzte Woche ganz kurz davor.“ Nun schoss auch ihm das Blut in die Wangen. Sie registrierte es mit Genugtuung. Nun hatte sie es quasi schriftlich. Der Zeitpunkt einer Entscheidung war da und ohne noch lange zu überlegen sagte sie fordernd:
„Dann tu's doch“. Ich will wissen, wie es ist.
„Los, wir sind ganz allein“, ermutigte sie ihn weiter.
„Was?“, stammelte er verwirrt.
„Komm her und küss mich, wenn du dich traust“, wiederholte sie leise ihr Angebot. Hast DU das gesagt? Bist du nicht mehr ganz bei Trost? Kirsten, was machst du denn? Du wolltest doch nur wissen, wie weit es gehen würde, und nun hast du deine Antwort, also beende das jetzt. Das ist genug. - Nein, ich will wissen, wie es sich anfühlt, wenn man einen Kuss von einem Mann bekommt, der einen so anschaut.
„Das meinst du doch nicht ernst!“, sagte er mit gerunzelter Stirn.
Sie schwieg, abwartend, gespannt bis in die kleinste Faser. Doch, sie meinte es ernst, sehr ernst.
Skeptisch sah er sie an, dann erhob er sich langsam, zögernd.
„Und dann langst du mir eine und läufst schreiend weg und erzählst allen da draußen, dass ich dich vergewaltigen wollte, was?“ Er lächelte unsicher, versuchte, die brisante Situation durch Witze zu entschärfen.
„Quatsch!“
„Du willst ernsthaft, dass ich dich küsse?“ Seine Miene war kritisch. Voller Argwohn blickte er sie an.
Ja, sie wollte ernsthaft einen Kuss von ihm. Nur einen, was ist schon dabei?
„Nur einen“, gab sie kleinlaut zu. Vielleicht ist das doch keine gute Idee. Vielleicht solltest du doch besser gehen.
„Und was bringt dir das?“, hakte er nach. Das klang einfach zu schön, um wahr zu sein. Aber es klang auch sehr nach Verarsche. Und benutzen lassen wollte er sich auch nicht einfach, dann lieber mit Stolz untergehen.
„Herrgott, stell doch nicht so viele Fragen! In den Filmen tun es die Männer einfach immer und du diskutierst erst stundenlang. Wenn du nicht willst, dann sag es einfach.“
Prüfend ging er einen Schritt auf sie zu, zweifelnd blieb er wieder stehen.
„Ich will ja, aber ich lasse mich nicht gerne benutzen“, gestand er. „Genau genommen lasse ich mich nicht gerne verletzen", fügte er leise hinzu.
„Ich will dich nicht benutzen und erst recht nicht verletzen.“ Doch, genau das willst du und das wirst du.
Nun war sie es, die den letzten Schritt auf ihn zumachte. Die Nähe seines Körpers war beinahe unerträglich. Kirsten! Dreh um und geh raus, weg von hier! Das ist unfair allen gegenüber! - Nur das eine Mal! Was ist schon dabei!
Unbeholfen standen sie sich gegenüber, unschlüssig, was zu tun war.
Kirsten, er steht direkt vor dir und er tut es noch, mach was dagegen! - NEIN, verdammt. Ich will es so!
Ihr Herz schlug so heftig, dass sie glaubte, ihr Brustkorb würde unter seinen Schlägen erzittern. Bis eben hatte sie sich ganz großartig gefühlt, als Herrin über die Situation. Als er so nah vor ihr stand, änderte sich ihre Wahrnehmung in einem Sekundenbruchteil, denn sie konnte sich nicht mehr rühren: Sie war das Kaninchen, er die Schlange, schön bunt anzusehen, aber giftig, gefährlich. Doch das süße Kaninchen war selbst schuld, es hatte die Schlange herbeigelockt. Und er zog sie so übermenschlich an, dass sie ihn am liebsten umschlungen und nie mehr losgelassen hätte.
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