Ihre Trinkerei hatte nichts mit meinem elften Lebensjahr zu tun, sie hatte da nur begonnen. Es war das Jahr, in dem Papa starb.
”Isabelle .... “ Ihre Stimme war wirklich kaum zu verstehen.
”Ich muss dir etwas wichtiges sagen. Du musst jetzt sehr stark sein, mein Kind.”
”Mama, sprich bitte lauter .... oder rufe morgen früh an, ich habe jetzt Arbeit und so.” Das “und so” stand dafür, das ich hoffte, morgens wäre sie nüchtern.
”Nein, ich ... du musst es erfahren, es ist so furchtbar, ich weiß nicht, wie ich es sagen soll, ich begreife es selbst doch kaum ...”
Sie weinte und das konnte ich am allerwenigsten vertragen.
Das Telefon hing am Ecken des Gläserschrankes, zwischen Küche und Tresen.
Die Kunden vor der Theke murmelten halblaut, Benny fischte nach meinen Zigaretten auf dem gelöcherten Blech unter der Zapfsäule.
Ich nickte ihm ungeduldig zu.
Ich wollte sowieso mit dem Rauchen aufhören, also konnte er sie meinetwegen ganz aufdampfen.
”Mama,” sagte ich sauer. “Bitte, ruf morgen an. Wenn die Kneipe zu ist. Ist besser, Mama.”
Gott und ich wussten, warum.
Sie schluchzte kiekend:
”Deine Schwester ... sie .... es ist etwas Furchtbares passiert .... “
Ich seufzte.
”Nadine hat Knatsch mit ihrem Alten und hockt dir mit den beiden Bälgern am Hals. Vielleicht auch mit zweieinhalb Bälgern ... Ich wußte, das der Kerl nichts taugt.”
Welcher Kerl taugte schon was? Aber damit durfte ich weder Mutter noch Nadine kommen.
Meine Mutter weinte lauter, irgendwie hatte ich das Gefühl, es sei diesmal keine von diesen üblichen: Nadine- sitzt- mit- blauem- Auge- am- Küchentisch- Gesprächen, die Mama bestimmt ein Vermögen an Telefonrechnung kosteten.
Ich wußte wirklich nicht, aus welchen mysteriösen Gründen sowohl Nadine als auch Mutter versuchten, mich immer wieder in ihre undurchschaubaren familiären Probleme zu verstricken. Worüber sie heute Sturzbäche von Tränen vergossen, das konnte morgen schon wieder vergessen und ganz anders sein.
Ich wäre eine Idiotin, wenn ich jemals einen Arzt, die Polizei, einen Rechtsanwalt, die Fürsorge oder nur die Adresse des nächsten Frauenhauses organisiert hätte. Nadine und Mama regelten dies auf ihre Art, das hieß, es gab viel heiße Luft, aber nichts dahinter. Wozu also überhaupt zuhören?
Ich pflegte bei der Schilderung der Anzeichen möglicher Untreue von Nadines Gatten Rechnungen zu addieren und wenn Mama über die männlichen Unarten des Ehelebens überhaupt jammerte, konnte ich hervorragend die Einkaufslisten kalkulieren.
”Nein, deine Schwester Yvonne .... “
”Ja, was ist denn mit meiner fast heiligen Schwester?”
Ich war wirklich sauer. Ich glaube, meine Mutter hatte in den letzten fünf Jahren nicht einen einzigen Satz vernünftig zu Ende sprechen können.
Immerhin hatte ich heraus, das es nicht um Dauerbrenner Sorgenkind Nummer 1 Nadine ging, sondern um die brave, stille Yvonne.
”Yvonne hat uns verlassen,” sagte Mama.
Sie sagte es leise und vorsichtig in den Telefonhörer.
”Ja, seit vier Jahren, Mama. Da hat sie sich entschlossen, doch nicht Nonne zu werden und ging nach Frankreich um einen Job als Hotelmädchen anzunehmen.”
Yvonne arbeitete irgendwo am Meer. Ich hoffte, sie habe sich in den vier Jahren mal ein paar anständige Kleider gekauft. Es war eine Schande, keine Nonne zu werden und trotzdem in Sack und Asche herumzulaufen. Und ausgerechnet in Frankreich graue Säcke zu tragen war geradezu eine ....
”Nein, ich meine .... wir haben sie verloren .... “
Ich bekam langsam das große Händezittern. Ich konnte nie lange mit meiner Mutter telefonieren, ohne dieses Gefühl am Hals zu kriegen, als schnüre mir jemand mit einem kratzenden Seil die Kehle zu. Dann begannen meine Hände immer zu beben.
”Verloren? Yvonne ist doch kein Regenschirm, den man stehenläßt oder ein Lippenstift, der aus der Tasche rutscht.
Was heißt verlassen und verloren, Mama? Kannst du mir das bitte sagen, bitte, Mama?”
Mir flatterten die Hände, aber sie musste erst noch weinen und schnäuzen.
Mama benutzte immer diese Zewa- Rollen, aus Vergesslichkeit oder weil sie günstiger ......
”Die Polizei rief mich heute Morgen an. Sie haben sie gefunden. Jemand von uns muss hinfahren um sie .... für die Formalitäten und ... ich bin nicht stark genug, und Nadine bekommt doch wieder ein Kind, da dachten wir .... “
Ihre Stimme bekam beinahe diesen demütigen überredenden Tonfall, den sie eigentlich nur bei Männern anschlug.
Das Flattern meiner Hände war jetzt so stark, Benny, der mit Ivoco gesprochen hatte, sah erstaunt zu mir hin.
”Verlassen, verloren, gefunden? Wovon redest du, Mutter?
Kannst du mir nicht sofort sagen, was los ist?
Kannst du nicht einmal so reden, als würdest du oder irgendein anderer Mensch begreifen, um was es geht?
Yvonne hat verlassen, wir haben verloren, die Polizei hat gefunden!
Mama, sag Tod. Komm schon, los, sag es. Sag: Tod. Es ist ganz einfach, es ist ein kurzes Wort. TOD!”
Ich schrie es, und erst als es in der Kneipe STILL war, Totenstill war, bemerkte ich es.
Am anderen Ende der Leitung war es auch still.
Ein du- hast- mir- auf- die- Brust- geschlagen- kann- nicht- mehr- atmen- Still.
Ich schüttelte den Hörer, als könnte ich so herausfinden, ob sie noch dran war, dann legte ich auf.
Ich drehte mich zu Benny und Ivoco um, band langsam meine Schürze auf und fragte:
”Benny, wäre es dir irgendwie möglich, deinen Job als Taxifahrer ... ich weiß nicht, vielleicht Urlaub zu nehmen? Ich bräuchte dich einige Tage als meine Vertretung hier, ich bezahle es dir gut.”
Benny sagte sofort Ja. Ich mochte nicht, wenn er so ohne Überlegung einfach Ja sagte, aber er versicherte gleich darauf, dass er Taxifahren WIRKLICH hasse und jederzeit dort aufhören und wieder anfangen könnte.
Ich glaube, ich sagte dann nicht mehr viel zu ihm.
Ich hatte soweit denken können, dass ich eine Vertretung brauchte, wenn ich, ja, wenn ich die Formalitäten erledigen musste.
Ich hätte meine Mutter zurückrufen sollen, aber alles in mir widerstrebte sich.
Als Informationsquelle taugte sie sowieso nichts. Die zwei, drei Tatsachen, die ich innerhalb Stunden unter dem Verbrauch einer Rolle Zewa- Wisch- und- Weg herausbekommen könnte, konnte ich mir selbst zusammenreimen.
Danach begann sich ein schwarzes Loch in meinem Kopf auszubreiten, bis es alle meine Gedanken und Gefühle schluckte.
Ich stand in der Küche herum und klatschte den Kartoffelsalat auf die Teller.
Ich hatte Ivoco und Benny gesagt, meine Schwester wäre tot, (wann, wie, warum, spielte noch keine Rolle, verschwand vorerst im schwarzem Loch).
Ivoco schlug vor, dass ich hinauf in meine Wohnung ginge, aber irgend etwas in mir sperrte sich dagegen.
Ich wollte in der Küche bleiben, bis die Kundschaft gewechselt hatte. Momentan waren da noch ein paar Gesichter, die aussahen, wie Leute aussehen, wenn sie vorhatten, auf Zehenspitzen um einen heranzuschleichen.
Dann würde ich die Gläser und Teller wegräumen und spülen.
Ich wollte genau das tun, was ich immer tat.
Vor allen Dingen, ich wollte unter den Leuten bleiben.
Solange noch jemand da war, dem ich ein Bier und einen Schnaps rüber geben konnte, blieben meine Hände ruhig.
Solange noch heiseres Gelächter von den runden Marmortischen kam, bläulich dunstige Rauchwolken schleierhaft an der Decke entlangzogen, würde ich nicht denken.
Mich nicht erinnern.
Yvonne war meine Schwester und sie war ..... tot.
Um ein Uhr schlossen wir die Kneipe, Ivoco und ich räumten und putzten.
Als meine Hände aufhörten, den sowieso bereits glänzenden Bierhahn zu wienern, begannen sie ganz leicht zu beben.
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