Leo Abt - Der Score
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Leo Abt
Der Score
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Inhaltsverzeichnis
Titel Leo Abt Der Score Dieses ebook wurde erstellt bei
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
Impressum neobooks
1. Kapitel
Mit zweiundsechzig kam Doktor Markus Schönherr zum ersten Mal im Leben der Verdacht, dass es vielleicht zu spät war, sich zu bessern. Da lag schon eine Karriere als Richter hinter ihm, außerdem zwei Ehen, die Beerdigung seines kleinen Bruders und ein Kampf ums Sorgerecht seiner Nichte Lisa. Von eigenen Kindern hatte Schönherr keine Kenntnis.
»Weißt du, das Wichtigste im Leben ist, dass du nie-nie-nie auf das Wohlwollen anderer Menschen angewiesen bist. Das ist das Allerwichtigste«, sagte Schönherr nach hinten in den Wagen und imitierte jenen feierlichen Schmerz, der letzte Worte und Allgemeinplätze in den Rang einer rätselhaften Wahrheit heben konnte.
Aber die kleine Person auf der Rückbank steckte in tiefer Konzentration. Sie arbeitete gerade an dem filigranen Werk, aus dem Popel zwischen ihren Fingerchen eine perfekte Kugel zu rollen, und machte keinen Mucks. Sie verpasste sogar den komischen Moment, als ihr Onkel im Rückspiegel Grimassen schnitt, um für das bevorstehende Gespräch nach einem Ausdruck zu forschen, den man einsichtig oder wenigstens nicht herablassend nennen konnte. Doch die Jahrzehnte des staatlich verordneten Rechthabens konnte er so natürlich nicht vertuschen, nicht mit ein paar mimischen Last-Minute-Übungen auf dem Weg in die Schlossberg Academy.
Sei es aus Mitleid oder Versehen, Karl-Uwe Hoffmann, der Leiter der Schlossberg Academy, war so freundlich gewesen, ihm einen Termin zu geben. Eine nutzlose Höflichkeit, nachdem man Schönherrs Nichte aufgrund von Score-Problemen die Eignung für die gute Schule abgesprochen hatte. Dass es für Lisa keinen Platz auf der Schlossberg gab, war keine Frage von Abwägung oder Sympathie, sondern wissenschaftliche Tatsache, wie es hieß. Trotzdem hatte Schönherr beschlossen, vor Hoffmann auf die Knie zu gehen.
Als sie mit geradezu unterwürfiger Pünktlichkeit auf den geleckten Campus der Privatschule einbogen, da dachte Schönherr zurück an seine eigene Schulzeit. Er überlegte, ob er jemals zum Direktor zitiert worden war, was ihm - je nach Schwere der Schuld - durchaus Respekt aus den Machtzentren des Schulhofs eingebracht hätte. Aber dem war nicht so. Keine einzige trübe Erinnerung, die im Licht und Schatten der Campusallee vor seinem geistigen Projektor antrat, deutete entfernt auf eine demütigende Erfahrung hin, wie sie ihm jetzt, zwei Generationen überfällig, bevorstand. Abgesehen von einer unnötigen Beziehungssimulation mit einer Querflötistin aus dem Pädagogikleistungskurs und der noch unnötigeren Eselei, ihr zuliebe die vakante Stelle des Paukisten im Schulorchester zu stopfen, hatte er die Schule reibungslos und unsichtbar hinter sich gebracht. Nie waren seine Leistungen oder Vergehen so bemerkenswert gewesen, dass sie zur Chefsache erklärt worden wären.
Selbst als es einmal fast so weit gewesen war, am Ende des Gymnasiums, als er in gehobener Erwartung mit Frauke und Sven, die abgesehen von einem sch am Anfang des Nachnamens nichts verband, das Büro des Schulleiters betrat, stand doch wieder nur der dritte Stellvertreter Soundso bereit, um ihm das Abiturzeugnis mit einem ausgeleierten Glückwunsch und den Worten zu überreichen, dass mit etwas Fleiß mehr drin gewesen wäre. Er hatte sich damals seine Initiation in was-auch-immer festlicher vorgestellt, glanzvoller und größer, weniger alltäglich jedenfalls. Er hatte gedacht, dass es die Aufgabe der Schule sei, seinen Namen in goldene Urkunden zu prägen, Jubelfeste zu veranstalten und - das wäre wohl das Mindeste gewesen - den Direktor zu zwingen, ihm zum Schluss die Hand zu schütteln.
Nichts war's. Einen übertriebenen Hang zum Ritual konnte man seiner ehemaligen Schule wirklich nicht vorwerfen. Aber als ihm Soundso wie nebenbei die Quittung über die letzten dreizehn Jahre seines Lebens zusteckte, da wollte der Lehrer mit seinem schlappen Tadel vielleicht nichts weiter als seine Enttäuschung zum Ausdruck bringen, dass Schönherrs Leistungen - irgendwo in der langweiligen Mitte der Jahrgangsstufe - für eine Prognose, was aus ihm mal werden würde, völlig unbrauchbar waren. Sogar der Berufsberater und sein Computer vom Arbeitsamt fühlten sich von der Konturlosigkeit ihres jungen Klienten so verunsichert, dass sie ihm nur alberne Vorschläge machen konnten: Ob er nicht über den Ausbildungsberuf des Metall- und Glockengießers nachdenken wolle? Oder Hafentaucher? Nein? Dann eben was mit Wirtschaft. Oder Medien. Egal.
Nachdem sich also kein Sachverständiger fürs Leben gefunden hatte, der ihm hätte sagen können, warum er auf der Welt war und zu welchem wertvollen Zweck, da war ihm in seiner Verwirrung nichts Besseres eingefallen, als mit geschlossenen Augen das erstbeste Studium auf dem Immatrikulationsformular anzukreuzen. Ganz ohne Visionen und ohne Next-Level-Coaching, ohne eine ungefähre Skizze in seinem Kopf von einer Karriere, die man später bewundern und als erfolgreich bezeichnen würde. Aber er fand Gefallen am Umgang mit dem Recht. Ja, er war gut und wurde Richter.
Ein halbes Jahrhundert später war der Zufall erledigt, und Schönherr auch.
*****
Die Schlossberg Academy lag im Villenviertel der Stadt, auf einem der sonnigen Hügel, und sie war zweifellos eine besondere Schule. Hier hießen der Schulleiter Präsident und die Lehrer Professoren , sogar die, die nur die Klassen eins bis vier unterrichteten. Ohne dass die Akademie ein Netz aus strengen Regeln über ihre Schüler werfen musste, wie sie sich zu kleiden und zu benehmen hätten, lag eine besondere Ordnung über der Schule. Niemand konnte mit Sicherheit sagen, ob der Präsident überhaupt jemals gezwungen gewesen war, einen Verweis auszusprechen. Selbst kleine Sanktionen waren die große Ausnahme.
Persönlichkeit entfalten im Geist einer besonderen Gemeinschaft. So beschwipst klang die Präambel zum pädagogischen Leitbild, das sich die Schule bei ihrer Gründung gegeben hatte.
Und dass ein besonderer Geist seine Finger im Spiel hatte, das sah man bereits daran, dass alle Schüler mehr oder weniger gleich aussahen. Die gepflegten Outfits der Sechs- bis Achtzehnjährigen wären in den internationalen Beratungsfirmen problemlos als Business Casual durchgegangen: dunkle Markenjeans, kombiniert mit gefälligen Hemden oder Shirts - weder weit noch eng, weder lang noch kurz. Die älteren Jungs steckten oft schon im Sakko, im stimmigen Kostüm die Mädchen. Saisonal schattiert. Wie von einer unsichtbaren Macht befohlen dominierten Einheitsstoffe, -farben und -schnitte, denen ohne den Kennerblick eines Typberaters kaum jemand gestattet hätte, ihre - wie heißt es? - nonverbalen Botschaften zu transportieren. Auf den reinlichen Brusttaschen und Kragen aller Lehrer und Schüler strahlte das Schullogo: ein Schloss, ein Berg, eine schwarze Kappe mit Zierquaste, wappenartig arrangiert und eingefasst von einem goldenen Lorbeerkranz. Gut sichtbar unter allen Lichtverhältnissen und Kamerawinkeln. Überhaupt klebte das Schullogo wie ein Kuckuck auf sämtlichen Dingen, die man bewegen konnte: auf Tennisbällen und Rucksäcken, auf Tablets und Sticks. Denn eine makellose Außenwirkung war der Schlossberg enorm wichtig.
So verfügte die Schule auch über sorgfältig isolierte Klassenzimmer, die sogenannten Isozimmer . Diese fensterlosen und drohnensicheren Räume waren mit dicken Wänden und kleinen autarken Netzwerken ausgestattet. Nichts drang hinein, nichts ging nach draußen. Dort, in den muffigen Kammern konnten alle Kinder nach Herzenslust toben und Unsinn machen, ohne dass die Algorithmen der Auskunfteien und Behörden davon Wind bekamen. Nach außen, wo das kollektive Gedächtnis saß, gingen nur erlesene Wahrheiten, solche, die gründlich gefiltert und poliert den optimalen elektronischen Fingerabdruck der jungen Auskunftspersonen nicht gefährdeten.
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