Als Mann wäre sie ihr sicher in anderer Form begegnet. Doch dann wäre sie wieder dort, wo sie nicht mehr sein wollte oder besser, sein konnte. Blieb also nur eine rein platonische Beziehung, selbst wenn das Herz darunter litt. Mehrmals hatte sie diesbezüglich eine harmlose Bemerkung gemacht, in der bangen Hoffnung auf ein Signal, auf ein Zeichen, dem sie etwas hätte entnehmen können. Doch niemals, nicht ein einziges Mal wurde sie fündig. Ihre Blicke blieben ohne jede Verlegenheit allein auf harmlose Neugier gerichtet, worunter Franka litt, da sie so trotz allem so stumm und kalt blieben. Das war zwar ernüchternd, anderseits jedoch befreiend. Waren doch damit die Fronten geklärt, und sie konnte ihr unverfänglich begegnen, was wiederum ein fast normales freundschaftliches Verhältnis ermöglichte.
Doch es gab auch Grenzen. So blieb es ihr unmöglich, sie in den Arm zu nehmen oder gar zu küssen, wie es gute Freundinnen zuweilen tun, zumal sich die Gelegenheit mehr als einmal ergab. Das war schon sehr deprimierend, und sie wagte nicht tiefer darüber nachzudenken, aus Angst vor neuen Irritationen. Aber sie durfte sich nicht verlieben, auch wenn sie ihr tausendmal imponierte und bisweilen an allem zweifeln ließ, was sie gestern noch für unumstößlich hielt. Nur war unter solchen Umständen eine platonische Beziehung überhaupt möglich? Wenn es sich wirklich nur um eine temporäre Verirrung des Herzens handelte, wie insgeheim erhofft, warum dann so intensiv; wieso dieses Brennen in der Brust bei jedem Blickkontakt, die feuchten Händen bei jeder noch so flüchtigen Berührung? Fasziniert hing sie bei jedem Wort an ihren Lippen, welche sie insgeheim so gern mit den ihren zermalmt hätte. Gern sah sie ihren halbgeöffneten Mund mit dem verführerischen rosaroten Schlund, genoss mit jedem Atemzug ihre Nähe, sich dabei am Duft ihres Körpers weidend und doch mit jeder Regung dem aufkommenden Begehren widerstrebend. Was kümmerte sie ihre etwas zu magere Gestalt, wenn allein die Vorstellung der sich biegenden und windenden jungen Frau sie völlig hinriss. Selbst wenn sie diese Gedanken nicht recht fixieren und schon gar nicht einordnen konnte. Was gäbe sie darum, alle Hemmnisse abzustreifen und sich treiben zu lassen, benommen von einer gestaltlosen Betäubung liebenden Verzehrens, allein in der Gewissheit, von ihr aufgefangen und geführt zu werden, gleichviel in welcher Form.
Dabei wusste sie nicht einmal, ob sie über ihre wahre Natur informiert wurde. Anzunehmen blieb es, da ihr Problem weit über die Abteilungsgrenzen hinaus bekannt war und mittlerweile zu befürchten stand, dass manch dümmliche Witzelei auch sie erreicht hatte. Möglicherweise verbarg sie es, doch wenn, dann so geschickt, dass man nichts merkte. Vielleicht lag hier die Ursache für Frankas Scham und gelegentliche Verunsicherung, obgleich sie ihr niemals einen Grund dafür gab. Alles blieb freundschaftlich korrekt, nett aber harmlos, da Viola auf kindlich-naive Weise jedes aufkommende Misstrauen zu vertreiben verstand. Folglich war es nur natürlich, dass sie sich in der Rolle des bedauernswerten Opfers gefiel. Das jedoch verlangte recht bald nach einer Erklärung, wollte sie nicht das gewonnene Vertrauen wieder verlieren.
- Die Lüge -
Eine Geschichte musste her, anrührend und fesselnd, um Violas Herz nicht nur zu erreichen, sondern möglichst zu erschüttern. Wie wäre es mit einer tragischen Romanze, welche vieles aus ihrer Vergangenheit in der einen oder anderen Abwandlung kolportieren könnte, so dass es schon detektivischen Gespürs bedurfte, kleinere Ungereimtheiten zu erkennen? Freilich müsste man sich dazu in etwas versteigen, was neben Einfühlungsvermögen vor allem genügend Authentizität verlangte, um glaubhaft zu bleiben. Nichts wäre fataler, als dabei ertappt zu werden. Nicht das sie ihre wahre Natur verleugnen wollte, beileibe nicht, aber um wirklich verstanden zu werden, war es einfach unumgänglich, sich in Gänze darzustellen, so auch in ihren Träumen.
Dazu muss man wissen, dass sie schon seit langem in ihren Träumen lebte, die sich in ihr soweit gefestigt hatten, dass sie zuweilen kuriosen Blüten trieben. So führten sie abends in ihrer Wohnung lange Zwiegespräche, mitunter gar hitzige Debatten mit allerlei fiktiven Gesprächspartner, denen sie die unterschiedlichsten Eigenschaften verlieh. Kaum zu glauben, wie interessant so etwas sein konnte, vorausgesetzt, man verfügt über die nötige Phantasie. So lange man nur tief genug in sich horcht und die eigene Widersprüchlichkeit zulässt, ist so etwas nicht schwierig. Dann ist es auch nicht mehr von Belang, ob eine Situation real oder fiktiv erscheint. Entscheidend bleibt der Effekt, der mitunter alle Zweifel vergessend macht und in seiner Rückwirkung Erstaunliches bewirken kann, sei es in Form von plötzlicher Euphorie, anhaltender Heiterkeit oder einem obligatorischen Kartengruß aus dem Urlaub mit dem verschnörkelten Zusatz: ’Viele Küsse, Dein Ronaldo` unter rosarotem Herzchen.
Nicht das sie schon verrückt war, jedenfalls nicht in diesem Sinne, und doch geriet sie immer wieder in Versuchung, sich in ihren Visionen zu übertreffen. Aber da sie nun mal so war, durfte sie das auch nicht verschweigen. Folglich lud sie sie eines abends zu sich auf ein Gläschen Wein ein. Zugegeben war ihre kleine Mansardenwohnung angesichts des spartanischen Mobiliars, das im Wesentlichen aus zwei Stühlen, einem Schrank und einer Liege bestand und das zudem noch aus zweiter Hand stammte, dafür nicht sonderlich repräsentativ. Verriet es doch unschwer ihre strenge Ökonomie, die im krassen Gegensatz zu ihrem sonstigen Lebensstil stand. Selbst mit ihrer Ordnungsliebe verhielt es sich nicht zum Besten. So hatte sie ständig Mühe, vergessene Papierreste in den dafür vorgesehenen Behälter zu werfen, war allergisch gegenüber jeglichem Abwasch und übertünchte unangenehme Gerüche lieber mit irgendwelchen Wässerchen, als die Ursachen zu beseitigen. Selbst die im Laufe der Zeit angesammelten Nippsachen schienen sich auf sonderbare Weise zu vermehren und vornehmlich an den staubigsten Ecken auszubreiten. Zwar hatte sie sich für diesen Abend alle Mühe gegeben, die hierfür nötige Ordnung zu schaffen, fürchtete jedoch Violas Feingespür für Reinlichkeit. Umso mehr hoffte sie, kleinere Nachlässigkeiten durch ein blendendes Äußeres zu überdecken. So trug sie ein lindgrünes Negligé mit süßem Spitzenbesatz und langem Seitenschlitz, hatte einige Kerzen angezündet und eine Flasche Chardonnay Grad Sud geöffnet, dessen liebliches Bukett sie besonders mochte. Im Hintergrund dudelte leise Musik von Pavarotti, und nachdem man gemeinsam ‘Brüderschaft‘ getrunken hatte – es folgte ein Küsschen auf die Wange - begann Franka sofort über Gott und alle Welt zu räsonieren. Doch obgleich das Thema sehr ernsthaft war – es ging um ihren jüngsten Disput mit einem unbedeutenden Kollegen -, wollte ihr eine überzeugende Empörung nicht gelingen. Immer wieder glitt sie ab, verzettelte sich wie jemand, der mit den Gedanken nicht bei der Sache ist und schaute sie zwischendurch verstohlen an. Viola merkte schnell, dass mir ihr etwas nicht stimmte, vor allem, nachdem ihre Gastgeberin ein paar Mal ins Stocken geraten war, besonders an heiklen Stellen, dann jedoch salopp darüber hinwegging, als wäre der kleine Schlenker durchaus gewollt.
Wie jetzt? Natürlich ginge es ihr gut, wie sie nur darauf käme? Nun ja, aber vielleicht habe sie recht und es gäbe tatsächlich ein paar Probleme. „Oh nein, nicht was du jetzt denkst, diese sind viel tieferer Natur,“ räumte sie schließlich ein. „Dabei liegt es ganz bestimmt nicht nur an ihm ... Wie jetzt? Habe ich dir noch nicht von ihm erzählt, von Ronaldo?“ Frankas Verwunderung wirkte echt. „Nein, so was, wie konnte ich nur ... fünf Jahre waren wir zusammen, fünf glückliche Jahre ... Er war aus gutem Hause, hatte eine glänzende Karriere vor sich ... hättest seine Mutter sehen sollen, eine richtige Schrulle war das ... er hingegen das ganze Gegenteil, groß, schlank, brünett, mit einem Hang zum Sentimentalen, ganz, wie ich es mag. Nun ja, wir verbrachten eine glückliche Zeit, und ich denke, dass unsere Liebe damals nicht inniger hätte sein können. Aber dann, ausgerechnet am Weihnachtsabend ... Oh, wie schwer wird mir ums Herz, wenn ich nur daran denke. Ich habe Tag und Nacht geheult, denn ich wollte es unbedingt, hatte mich darauf gefreut, wie man sich nur auf etwas freuen kann, ja, ich hätte mein Leben dafür gegeben ...“ An dieser Stelle verstummte sie in tiefer Selbstergriffenheit, nahm ihr Taschentuch und schneuzte. „Noch am selben Abend bekam ich Wehen ... Die Ärzte versuchten alles ...“. Erneut geriet sie ins Stocken, eisige Blässe legte sich auf ihr Gesicht und ihr Blick erstarrte. „Und dann, ja dann verlor ich es ... Ja, ich hab’s verloren, und wir sind beide darüber zerbrochen ... Nun weißt du es, weißt alles, was sonst niemand weiß und auch niemand wissen darf! Versprich mir, dass du schweigst, dass du niemandem davon erzählst, hörst du? Das ist mir wirklich wichtig, wichtiger, als alles andere auf der Welt.“
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