Nicht, dass es ihr an Versuchen mangelte, dem zu widerstehen. Im Gegenteil, anfangs zwang sie sich sogar und meinte in dem, was sie tat, etwas Schmutziges, Verwerfliches zu sehen, dessen man sich schämen müsse. Doch wie, wenn hinter jedem Versuch eine schmerzhafte Selbstverleugnung stand? Wie diesen Schmerz überwinden, ohne ihn erneut zu provozieren? Niemand konnte so etwas auf Dauer ertragen, ohne Schaden an der Seele zu nehmen.
Die Mutter sah mit großer Sorge die androgynen Züge ihres Kindes, welche mit dem Einfordern bestimmter Verhaltensweise partout nicht korrespondierten. Selbst all die fiktiven Lausbubengeschichten, welche sie in der Nachbarschaft herumtrug, halfen nichts. Vielmehr wurden die häuslichen Sanktionen immer strenger, nur um das gewünschte Verhalten zu erzwingen. So reagierte sie selbst bei nichtigsten Verstöße oftmals sehr empfindlich und scheute nicht einmal davor, sie vor anderen bloßzustellen.
„Stell Dir nur vor, unser Frank wird langsam männlich“, spöttelte sie einmal am Mittagstisch in Gegenwart von Onkel Willi, einem grobschlächtigen Mittfünfziger, der schrecklich viel aß und unverhohlen laut über Dinge redete, worüber anständige Menschen nur verschämt schwiegen. „Sieh nur, er muss sich bereits rasieren“ und streichelte ihr zärtlich die Wange.
„Wirklich?“, fragte dieser ungläubig staunend. „Ich finde, er sieht immer noch recht zart aus, richtig knabenhaft. Aber jetzt, wo du es sagst -, stimmt, der Flaum auf der Oberlippe sieht putzig aus.“
„Putzig?“
„Nicht doch, Grete, so meine ich das nicht. Er sollte ihn später unbedingt einmal stehen lassen - den Bart meine ich, ähä.“ Diesen Nachsatz fand er wer weiß wie komisch und klatschte sich vor Begeisterung aufs Knie.
Gott, wie drehte sie ihr der Magen um, angesichts solcher Trivialität. Und als er dann noch eine gegarte Spargelstange vom Teller fischte und demonstrativ in die Höhe hielt, wurde ihr ganz schwarz vor Augen. Ihr Herz begann zu Rasen, ihr Magen rebellierte, so dass sie aufsprang und in ihr Zimmer rannte, wo sie den Rest des Tages allein in blinder Wut über die eigene Ohnmacht verbrachte.
Sie hatte lange gebraucht, diese Instinktlosigkeiten und vor allem Mutters Gleichmut zu verdauen, zumal sie zu diesem Zeitpunkt weder ihre eigene Scham noch Erregung begriff. Abends lag sie noch lange wach. Ständig trat ihr diese obszöne Geste mit dem Hinweis auf jenes verräterische Rudiment vor Augen, das sie vor anderen zwar zu verbergen verstand, jedoch nicht gänzlich verleugnen konnte. Es war einfach schrecklich, so unvollkommen, oder genauer, so missgestaltet zu sein und das auch noch ständig zu spüren. Jeder Hinweis darauf erfüllte sie mit Schmerz und Scham, weil es schmutzig und widerwärtig war, weil es ihre Seele vergiftete und einfach nicht zu ihr passte.
Doch was dagegen unternehmen? Wiederholt trug sie sich mit dem Gedanken an Selbstverstümmelung, schreckte jedoch davor zurück. Es musste einen anderen Weg geben, einen sanfteren. Nur welchen?
- Der tägliche Kampf -
Es begann mit dem Namen – Franka anstelle von Frank. Entgegen aller bürokratischen Hürden setzte sie eine amtliche Umschreibung durch und konnte sich jetzt auch offiziell zu ihren Geschlecht bekennen. Ebenso hatte sie sich hinsichtlich ihres Äußeren entschieden. Mit großer Sorgfalt widmete sie sich ihrem Körper, begann unerwünschte Härchen zu epilieren und führten sich verstärkt Östrogene zu. In der Tat wurde ihre Stimme bald weicher, die Formen runder, und ihr Erscheinen in Kostüm und Stöckelschuhen, begleitet von einer Wolke Eau de Cologne, schnell zum allgemeinen Ereignis.
Anfangs führte das zu großen Irritationen, nicht nur im Kollegenkreis. Auch das im Amt erscheinende Publikum zeigte sich verwirrt bis befremdet über die große Dame mit dem herben Touch, die sich schon mal im Ton vergreifen konnte, wenn man ihren Service ablehnte. Dann verlangte sie umgehend eine Erklärung, kam schnell ins Diskutieren und ließ nicht locker, bevor das Problem geklärt war. Besonders bei notorischen Schweigern und vor allem bornierten Spießern geriet sie schnell in Rage und konnte nur durch herbeieilende Kollegen gestoppt werden. Aber selbst das nachfolgende Vieraugengespräch mit dem Chef führte niemals zur abschließenden Klärung. Anstatt des erhofften Verständnisses, stieß sie hier erst recht auf Misstrauen, teilweise gar Feindseligkeit, wobei man sie ohne weitere Prüfung stets zur Ordnung rief, die Sache selbst jedoch verharmloste. Außerdem - und das empfand sie als besonders infam - spielte man jedes Mal in einem seltsamen Unterton auf den Vertrag des Vertrauens an, der ihr zwar eine Beschäftigung in dieser Abteilung garantiere, jedoch keine Narrenfreiheit. Konnte oder wollte man nicht verstehen? Von wegen, ’sich zu wichtig nehmen’. Sollte sie den Kopf in den Sand stecken und zu solchen Dingen schweigen?
Mit solchen Leuten konnte man einfach nicht diskutieren. Das eins plus eins zwei macht, schien für sie irrelevant. Die Frage war doch nicht ‚ihr Problem’, wie man es abfällig nannte, sondern vielmehr die allgemeine Einstellung dazu. Weshalb also die Forderung nach Offenheit, wenn sie im Ernstfall Makulatur blieb? Freilich war ihr längst bekannt, dass man sie aufgrund ihrer Lebensführung für etwas verschroben hielt, auch konnte sie mit scheelen Seitenblicken leben; sie aber gleich in eine andere Abteilung zu schieben, obwohl der letzte Wechsel noch nicht lange zurücklag, war pure Heuchelei. Da half auch das Gefasel von besseren Aufstiegschancen nichts, womit sie G. am nächsten Tag zu beschwichtigen versuchte. Sie lehnte schon aus Prinzip ab. Natürlich verstand das G.. Jedenfalls zeigte er sich beeindruckt, wenn auch nicht sehr glücklich. Also blieb sie.
Doch es war ein schwerer Sieg. Ihre Gegner begannen sich zu polarisierten, in jene, die nur auf kleinste Nachlässigkeiten warteten, um sie sofort zu attackieren und diejenigen, welche sich mit den Gegebenheiten arrangierten, ohne ihr jedoch wirklich gewogen zu sein. Letzte waren ihr fast noch suspekter, da undurchsichtiger. Sie gewöhnte sich deshalb an, solche Leute durch kleine Gefälligkeiten bei Laune zu halten, freilich mit der Option einer sofortigen Umkehr bei plötzlichen Positionswechseln.
Auf diese Weise gelang es ihr, ihre Gegnerschaft zu spalten und zumindest so etwas wie Uneinigkeit zu stiften, was sich letztlich zu ihren Gunsten auswirkte. Selbst wenn die Attacken nicht nachließen und sie weiterhin im Kreuzfeuer der Kritik blieb, trug das dennoch zur Steigerung ihrer Popularität bei. Deshalb war es schon bald ein Muss, sie, wenn schon nicht persönlich, so doch zumindest namentlich zu kennen. Folglich avancierte sie immer mehr zu einem unverzichtbaren Gast in Foren und Talkrunden, wo ihre emotionalen Ausfälle gleichermaßen beliebt wie gefürchtet waren. Vom Standpunkt einer Geächteten vermochte sie wie kein anderer die bestehenden Probleme bis ins Extrem zu dramatisieren. Dabei scheute sie nicht einmal davor zurück, bis zum Äußersten zu gehen und mit den nötigen Konsequenzen zu drohen. Da wurden die Verantwortlichen schon mal in die Pflicht genommen. Ihre Argumente waren so ausgeklügelt und verschlagen, ihr Auftreten so resolut, dass sie einfach nicht zu stellen war, gleichviel von welcher Seite man es auch versuchte.
Der nachfolgende Sieg beförderte ihren Enthusiasmus und ihre Selbstsicherheit nur noch mehr. Schon bald wurde sie von vielen als Frau bzw. Fräulein angesprochen und niemand wagte noch über ihre Wimperntusche bzw. das Wangenrouge zu lästern. Auch wurden die Umgangsformen ihr gegenüber angenehmer, und es kam schon mal vor, dass ihr jemand die Tür öffnete oder sich nach einem herabgefallenen Kugelschreiber bückte.
Anfangs amüsierte sie das, weil es so ungewohnt war. Doch die Gewöhnung daran fiel leichter als erwartet und reflektierte bald ihre allgemeine gesellschaftliche Aufwertung. Wie hätte sie jetzt noch an ihrem Weg zweifeln sollen? Wäre sie halbherzig geblieben, wie die meisten ihrer Leidensgenossen, die sie während ihrer mittlerweile regelmäßigen Treffen in der I. T. (Interessensgemeinschaft Transsexueller) kennen lernte und deren Vorsitz sie inne hatte, sie hätte niemals den Mut zu solcher Konsequenz besessen. Aber genau das war nötig, zumal ihr der schwierigste Teil noch bevorstand. Nicht ohne Furcht begann sie mit dem Studium aller möglichen Literatur, im Verlaufe dessen sie zur Überzeugung kam, dass der abschließende Schritt zur vollständigen Frau nicht nur möglich, sondern längst überfällig war. Nur dann könnte sie zur Erfüllung ihrer Sehnsüchte finden und ihre Weiblichkeit in Gänze ausleben.
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