Ihre Informationen dazu bezog sie aus erster Hand, erwog Haupt- und Nebenwirkungen, Belastungen für Körper und Geist, informierte sich über alle möglichen Therapien und war schon bald so firm, dass sie selber entsprechende Beiträge verfassen. Aber selbst wenn eine letzte Angst noch blieb, ergab sich doch keine Alternative. Zu tief steckte sie bereits in ihrer Weiblichkeit, als noch einmal umzukehren.
Allmählich begann sich auch ihr Verhältnis zur Männerwelt zu verändern, wobei sie überrascht feststellte, dass sie selbst bei flüchtigen Kontakten, neuerdings anders reagierte. Wirkte sie früher noch verlegen und gehemmt und witterte hinter jeder Bemerkung sofort einen persönlichen Angriff, wurde sie zunehmend toleranter und konnte auch schon mal über zweideutige Bemerkungen lachen. Dabei war es ganz amüsant, die verdutzten Gesichter zu sehen, sobald sie das Geheimnis um ihre wahre Natur lüftete, natürlich erst nach einem längeren Vorgespräch und dann eher beiläufig. „Nicht möglich?“, war daraufhin zu hören, gefolgt von endlosem Staunen. Dann war es ihr jedes Mal ein Vergnügen, unter fremder Anteilnahme ihre Probleme großmütig zu verharmlosen und über Dinge zu reden, welche für andere kaum nachvollziehbar waren. Aber die Gewissheit, etwas derart Besonderes zu sein, entschädigte sie für die innere Pein und gab ihr die nötige Aufwertung und Genugtuung.
Einmal - man wird es nicht glauben - wurde sie sogar während einer alljährlichen Feierlichkeit vor allen Anwesenden von einem fremden Mann zum Tanz aufgefordert. Das nachfolgende Gefühl war so unglaublich, dass sie während des Tanzes wie auf einer Wolke schwebte. Da war kein Misstrauen und keine Abscheu mehr, stattdessen eine tiefe, innere Wärme und ein leichtes Prickeln bei jeder noch so leichten Berührung. Und als er ihrer Wange dabei noch nahe kam und sie seine Wärme spürte, fühlte sie sich bis in die Haarspitzen erregt. Beim Himmel, sie hätte schreien können vor Glück. Alle Sinne wirbelten durcheinander und machten sie benommen. Das alles hatte etwas Romantisches, Zärtliches, als wäre es nicht von dieser Welt. Leider blieb es nur bei einem Lächeln und förmlichen ‚Dankeschön’ und ‚Bitteschön’, und sie fand sich viel zu schnell an ihrem Platz wieder, noch immer von dem zauberhaften Eindruck umweht,der sie die ganze Nacht nicht mehr schlafen ließ.
Konnte so etwas falsch sein? Wer wollte ihr noch etwas von Moral erzählen? Eine Moral, die zur Qual verdammt, konnte ihr gestohlen bleiben. Sie wollte leben, nicht mehr aber auch nicht weniger, gleichviel um welchen Preis.
- Der Rückfall -
Inzwischen war Franka davon überzeugt, dass sich ihr Wunsch nach erfüllter Partnerschaft durchaus realisieren ließe, wäre sie erst von allem befreit, was sie daran hinderte, bei einem künftigen Partner jedoch für unverzichtbar hielt.
Längst hatte dieser in ihren Träumen Gestalt angenommen in Form eines dunkelhaarigen Beaus namens Ronaldo (diesen Namen fand sie besonders erotisch). In ihm vereinigten sich ihre mittlerweile sehr konkreten Vorstellungen vom idealen Mann, angefangen von Größe, Gestalt, Haar- und Augenfarbe, bis hin zu ganz bestimmten charakterlichen Eigenschaften, woran sie künftig jeden Bewerber bemessen würde. Und sie wiederum wäre bereit sich bezüglich seiner Anforderungen nicht zu schonen, wobei sie selbst ihr ärgster Kritiker war. Mit äußerster Sorge betrachtete sie sich jeden Morgen im Spiegel, glättete die Fältchen pedantisch mit Gel und Creme und epilierte jedes neu aufkeimende Härchen. Es musste doch gelingen, alles Verräterische zu beseitigen und selbst die letzten Zweifler zu überzeugen, dass sie wirklich eine Sie war.
Doch das Schicksal geht zuweilen sonderbare Wege. Ausgerechnet jetzt, da Ronaldos Konturen immer deutlicher wurden und in ihrer Phantasie erste zärtliche Gedanken reiften, begegnete ihr Viola, eine junge Praktikantin, die sie gleich vom ersten Moment an verwirrte. Obgleich sie durch nichts in ihrer Weiblichkeit bestach und mit ihrer grazilen Figur, der Stupsnase und der dunklen Kurzhaarfrisur mehr einem grauen Mäuschen als einer Person von besonderem Interesse glich, faszinierte sie durch eine verblüffende Natürlichkeit.
Wie sich herausstellte, besaß sie keinerlei Protektionen, ja war nicht einmal sonderlich bemittelt, um sich ein ordentliches Ballkleid zu leisten. Der Fetzen jedenfalls, den sie zur Begrüßungsfeier trug, schien aus irgendeinem Second-Hand-Laden zu stammen und wirkte im Vergleich zu ihrer Festrobe geradezu erbärmlich. Umso verwunderlicher, dass sich Frankas Augen nicht von ihr lösen konnte und sie das Gefühl überkam, dass es der anderen ebenso erging.
Natürlich wäre sie niemals auf die Idee eines näheren Kontakts gekommen, hätte man sie nicht miteinander bekannt gemacht und das auch nur, weil ihr bisheriger Gesprächspartner, Amtsrat Dr. S. aus der Nachbarabteilung, plötzlich weg musste. Das war schon sehr seltsam. Aber auch wenn ihr erster Wortwechsel nicht sonderlich gehaltvoll ausfiel und über banale Anstandsfloskeln kaum hinauskam, entspann sich recht schnell ein interessantes, überaus aufschlussreiches Gespräch.
Dabei war es durchaus kein höfliches Lavieren, zwischen gestelltem und tatsächlichem Interesse wie es für Zwangsbekanntschaften oftmals bezeichnend, sondern ein durchaus erfrischender Dialog von erstaunlicher Lebendigkeit. Violas Geschichten, die mal bitter, dann wieder heiter ausfielen, boten stets genügend Raum für Kommentare und somit reichlich Gelegenheit, sich selber einzubringen – ein Umstand, den Franka sehr schätzte. Folglich kam sie schnell in Fahrt, obgleich sie für diesen Abend eigentlich ganz andere Pläne hatte ... Nein, so was aber auch, was sie nicht sage, wo gab es denn das? Und dagegen habe sie nicht protestiert? Also, wenn ihr das passiert wäre … Und schon erklärte sie, wie in solchen Fällen zu verfahren sei, wobei es ihr sichtliches Vergnügen bereitete, ihre ganze Routine und Verschlagenheit auszuspielen. Ganz rot wurde sie vor Eifer, bekam feuchte Lippen und vergaß für einen Moment sogar die Contenance, als sie ihrer verdutzten Zuhörerin an einer besonders amüsanten Stelle mannhaft auf die Schulter klopfte, im selben Moment jedoch darüber erschrak und kichernd mit dem Taschentuch wedelte. Am liebsten hätte sie dieses arme Dingelchen jetzt in den Arm genommen und so manches gestanden, was ihr befremdliches Verhalten erklärt hätte, traute sich aber nicht. Dann jedoch wieder, inmitten dieser herzerfrischenden Polemik, erwachte so etwas wie Wehmut, beinahe Schmerz, vornehmlich, wenn sie von Dingen hörte, die sie selbst noch nicht erfahren hatte, deren Existenz aber längst vorausfühlte. Aber das war nicht der übliche Zorn, denn so, wie sie es sagte, zielte es keineswegs auf ihre Befindlichkeiten ab, sondern entsprang ihrer unglaublichen Natürlichkeit. Vielmehr beschämte sie die Schlechtigkeit der eigenen Gedanken, was sich angesichts der Ungezwungenheit dieses Plappermauls als völlig unbegründet erwies. Welcher Teufel ritt sie nur, zu allem sofort in Opposition zu gehen? War sie wirklich schon so verschroben? Plötzlich kamen ihr die Tränen und mit ihnen der Wunsch, diesem Mädchen alles Gute zu tun, ihr beizustehen und vor allem, sie zu beschützen - koste es, was es wolle. Das geschah völlig spontan und kam ganz tief aus ihrem Herzen, und als sie auch noch eine gewisse Gegenseitigkeit verspürte und das so zaghaft und bescheiden, wie es nur dem Anstand geschuldet sein konnte, fühlte sie sich tief gerührt.
So entstand bald ein sehr inniger Kontakt, der als bloße Freundschaft sicher untertrieben wäre, zu mehr aber auch nicht reichte. Und doch, oder vielleicht gerade deshalb, wurde ihr die eigene Unvollkommenheit mitsamt der Dringlichkeit des letzten, entscheidenden Schrittes bewusst, der keinerlei Kompromisse duldete, wollte sie nicht an den Folgen zerbrechen. Erst dann - davon war sie überzeugt - könnte sie ihr ohne Irritation rein freundschaftlich von Frau zu Frau begegnen und davon mehr nehmen, als ihr momentan möglich war. Glücklicherweise war diese Viola hetero veranlagt, so dass sich diese Situation nicht noch weiter verkomplizierte. Sie hätte ohnehin niemals wieder etwas davon abhängig gemacht - dazu hatte sie bereits zu viel durchlitten. Und doch mochte sie zu diesem Zeitpunkt keinen Pfennig darauf verwettet haben, vor allem, wenn diese blauen Augen so rätselhaft funkelten und dabei jede Interpretation offen ließen.
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