Oft hat ein hungerndes und unterdrücktes Volk aus Verzweiflung die Waffen gegen seine Unterdrücker erhoben, aber fehlende Einigkeit und Organisation gaben der Konterrevolution leichtes Spiel. Derartige, aus Verzweiflung geführte Revolutionen waren von kurzer Dauer und konnten niemals in eine effektive soziale Ordnung in Friedenszeiten verwandelt werden. Der Heldenmut aufständischer Unterklassen ertrank deshalb in blutigen Niederlagen.
Dass diesen Aufständen niemals ein glücklicher Ausgang beschieden war, liegt auch daran, dass sich die Mittelklasse in solchen Situationen mit der Oberklasse verbündet. Trotz allem hat die Mittelklasse im Verhältnis zur niedrigsten sozialen Schicht bedeutende Vorteile. Verschreckt über die Vehemenz der Unterklasserevolten wird sie zum Verbündeten der Oberklasse, um dann mit ihr gemeinsam die proletarischen Aufstände zu bekämpfen.
Zwar haben revolutionäre Bestrebungen der Unterklasse deshalb bisher kaum Erfolge zu verbuchen, doch dies bedeutet nicht, dass ihre Situation im Verlauf der Zeiten unverändert geblieben ist. Die Unterklasse kann einen erheblichen materiellen Fortschritt verzeichnen: Der Wohlstand. das Ausbildungsniveau und der Lebensstandard sind gestiegen. In Bezug auf die angestrebte Gleichheit ist sie jedoch keinen Schritt weitergekommen. Die soziale Struktur ist trotz gewaltiger Erschütterungen unveränderlich.
Wenn es der Mittelklasse mit Hilfe der Unterklasse gelungen ist die Oberklasse zu stürzen, übernimmt sie selbst die Herrschaft. Nach und nach entwickelt sich eine neue Mittelklasse. Diese rekrutiert ihre Vertreter zum einen aus ehemaligen Angehörigen der Oberklasse. die diese als untaugliche Elemente ausgestoßen hat, und zum anderen aus den aktivsten und ehrgeizigsten Angehörigen der Unterklasse. Auf diese Weise entsteht eine neue Mittelklasse, deren Ziel wie immer die höchste Rangstufe in der sozialen· Ordnung ist. Sobald die ersten Anzeichen von Schwäche in der Oberklasse sichtbar werden, verbündet sich die Mittel- mit der Unterklasse und stürzt die herrschende Schicht. Die revolutionäre Mittelklasse übernimmt nun die führende Rolle in der sozialen Komödie. Die Besetzung der Statistenrolle bleibt unverändert, da zum Schluss die Unterklasse wieder auf ihren alten Platz verwiesen wird. Die soziale Struktur zeigt sich bald wieder als typisches Drei-Klassen-Gebilde. Das Gyroskop ist von neuem im Gleichgewicht.
Die französische Komödie von 1789
Im Zuge der großen Französischen Revolution geschahen grundlegende gesellschaftliche Veränderungen.
Dem Bürgertum gelang es, die absolutistische Monarchie irreparabel zu zerschlagen. Adel und Kirche verloren ihre ökonomischen Machtgrundlagen, den Besitz an Grund und Boden. Die Privilegien des Feudaladels wurden abgeschafft und die Menschenrechte verkündet. Freiheit und Gleichheit zählen seit damals zu den Grundbegriffen menschlicher Wertvorstellungen. Ein neues Regierungssystem wurde eingeführt, der Wille des Volkes als Grundlage der Machtausübung proklamiert. Die Revolution stellt zweifellos einen Markstein der Geschichte dar und veränderte das politische und soziale Bewusstsein aller gesellschaftlichen Klassen, in das sich die Freiheitsbotschaft der Französischen Revolution unauslöschlich eingebrannt hat. Die Hoffnungen des französischen Volkes auf ein menschenwürdiges Dasein wurden zwar nicht unmittelbar erfüllt, doch sie diente zusammen mit der damals entzündeten Freiheitsfackel den Völkern bis 1917 als Inspirationsquelle für revolutionäre Bestrebungen.
Die Französische Revolution war wie alle anderen erfolgreichen Revolutionen ein Werk der Mittelklasse. Mit Hilfe der Unterklasse gelang es ihr, die Oberklasse zu vernichten.
Ende des 18. Jahrhunderts traten in der besitzenden Klasse starke Verfallserscheinungen auf. Jedermann konnte bemerken, dass der Feudaladel seine Regierungsfähigkeit verloren hatte. An der Spitze der Gesellschaftspyramide stand ein schwacher, unschlüssiger König, der die Zeit mit nichtssagenden Spielereien totschlug und sich den Freuden der Tafel und des Jagdlebens hingab, und eine Königin, die an einer noch größeren Vergnügungssucht litt. Das Königspaar war von dem größten Hofstaat, den die Welt je gesehen hatte, umgeben. Es wird geschätzt, dass ca. 4000 Familien zu diesem Kreis gehörten. Nur Angehörigen des obersten grundbesitzenden Adels wurde die Aufnahme am Hofe gewährt. Im Allgemeinen bewirtschafteten die Gutsbesitzer ihre Güter nicht selbst. Ihr Interesse für landwirtschaftliche Probleme war auf das Eintreiben der Pachtzinsen beschränkt. Reformideen schenkten sie keine Aufmerksamkeit, was schließlich zur Stagnation des landwirtschaftlichen Produktionssystems führte.
Das Leben am Hofe war äußerst kostspielig, deshalb waren die meisten Familien von königlichen Gunstbezeugungen abhängig, um an dem hektischen Gesellschaftsleben und dem Streben nach Status teilnehmen zu können. Das Hofleben trug somit zur Schwächung der Kampfkraft der Oberklasse bei. Unzählige Intrigen wurden ausgetragen, um einträgliche Hofämter und Offizierstitel sowie Bischofs- und Abstellungen zu ergattern. Dieser interne Konkurrenzkampf trug zur Spaltung in der führenden Schicht bei. Weit schlimmere Folgen hatte jedoch die Einstellung der Führungsschicht, wichtige Staatsämter als Futterkrippen zu betrachten. Für die Minister waren nicht die staatserhaltenden Funktionen der jeweiligen Hofämter von Bedeutung, sondern allein deren ökonomische Ergiebigkeit. Sobald sich eine Herrscherklasse jedoch ästhetischen Genüssen hingibt, anstatt mit Entschlossenheit und Energie zu regieren, ist ihr Untergang besiegelt. Keine machtausübende Klasse kann erwarten, das Zepter auch dann noch fest in der Hand zu halten, wenn sie über einen längeren Zeitraum hinweg große Teile des Nationalvermögens für unproduktive Vergnügungszwecke vergeudet.
Der herrschenden Klasse unterliefen zwei weitere Kardinalfehler. Der eine bestand darin, dass sie die zunehmende Unzufriedenheit innerhalb der eigenen Reihen nicht bemerkte, und der andere, dass sie das Erstarken einer unzufriedenen und machtgierigen Mittelklasse zuließ.
Die herrschende Schicht hatte nicht die Bedeutung einer gemeinsamen geistigen Grundhaltung für die Stärke der eigenen Klasse erkannt. Eine Missachtung dieses Zusammenhangs kann verheerende Folgen haben, da interne Streitereien und Ränkespiel zur Schwächung des Zusammenhalts führen. Sobald der Klasse aber von außen Gefahr droht, sind diese in Wirklichkeit harmlosen Unstimmigkeiten oft schnell vergessen. Führen materielle Interessengegensätze hingegen zu einer geistigen Spaltung in den eigenen Reihen, ist die Klasse ernster Gefahr ausgesetzt. Die französische Oberklasse befand sich in Bezug auf den niederen Adel und den niederen Klerus vor der Revolution in einer solchen Situation.
Die Angehörigen des niederen Adels, hauptsächlich jüngere Söhne großer Adelsfamilien, führten ein recht untätiges Dasein, das ihnen im Wesentlichen durch ein kleines Familienerbteil ermöglicht wurde. Da es für die meisten unmöglich war, nennenswerten Grundbesitz zu erwerben, gerieten sie rasch in Armut. Einerseits hinderte sie ihre adlige Abstammung, eine bürgerliche Laufbahn einzuschlagen und sich auf diese Weise Einkommen zu verschaffen. Andererseits beharrten sie auf ihrem adligen Namen, der ihnen aber keinen Einfluss gab. In dieser zahlenstarken Schicht entwickelte sich eine große Unzufriedenheit gegenüber dem System.
Auch innerhalb des niederen Klerus, insbesondere bei den Gemeindepriestern und niederen Kirchenbeamten, herrschten Unzufriedenheit und Neid. Die Oberen des mächtigen und reichen Klerus konnten nicht mehr mit der Loyalität dieser niederen Schicht rechnen. In einer revolutionären Situation würde es der Oberklasse kaum gelingen, über die niederen adligen und geistigen Stände zu bestimmen. Stagnation oder geradezu Rückgang in der landwirtschaftlichen Produktion, dem wichtigsten Produktionssystem, Schwächung der Fähigkeit und des Willens zur Ausübung der Herrschaft sowie moralischer Verfall verminderten die soziale Macht der alten Herrscherklasse. Die Stunde des Machtwechsels war gekommen. Die soziale Stärke der aufsteigenden Mittelklasse nahm in dem Verhältnis zu, wie diejenige ihres Rivalen sich verringerte. Die Zukunft lag in den Händen des Bürgertums. Dieses verkörperte eine zeitgemäßere ökonomische Ordnung und besaß eine glaubwürdigere Weltanschauung. Darüber hinaus verfügte die neue Klasse über den notwendigen Willen zur Machtausübung, den Glauben an die eigene Mission sowie Energie und Unternehmungslust. Neben den ehrgeizigen und selbstbewussten Vertretern des Bürgertums wirkten die degenerierten Adligen wie kraftlose Dinosaurier.
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