Die Interessen und Ziele der drei Klassen sind unvereinbar. Für die Unterklasse ist immer der Wunsch nach Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit die Triebkraft des Handelns - Freiheit von Unterdrückung, Gleichheit bei der Verteilung von Gütern und Gerechtigkeit im Gerichtssaal.
Die Oberklasse strebt nach Erhaltung und Sicherung der Macht über die Mittel- und Unterklasse, um ihre materiellen Bedürfnisse und geistigen Ambitionen befriedigen zu können. In erster Linie beruht die Macht der Oberklasse auf der Kontrolle Uber die Produktion und Arbeitskräfte. Das wichtigste Privileg der Oberklasse ist jedoch die Verteilung der produzierten Güter, wodurch sie sich selbst den größten Teil zukommen lassen kann. Die Herrschaft der Oberklasse erstreckt sich auch auf die verschiedenen Gebiete des kulturellen und geistigen Lebens einer Gesellschaft. Wer die Macht hat, hat das Recht. Und das wichtigste Recht ist das Definitionsrecht. Das Recht zu bestimmen, was gut oder böse ist, schön oder hässlich, wertvoll oder minderwertig, recht oder unrecht, fortschrittlich oder reaktionär. Dieses Rechts hat sich die Oberklasse zu allen Zeiten bedient. Die Stärke der Oberklasse liegt nicht zuletzt auch darin, dass sie den Aufbau der jeweiligen Gesellschaft am besten kennt und über ausgezeichnete Geschichtskenntnisse verfügt. Die Oberklasse bestimmt und kontrolliert die Art und den Umfang von Informationen, die geschaffen und veröffentlicht werden. Wer die Gegenwart beherrscht, dem gehört die Vergangenheit, und wer die Vergangenheit gestalten kann, der besitzt die Zukunft. Die siegreiche Oberklasse schafft sich ihre eigenen Definitionen und bestimmt damit Politik und Geschichte.
Und welches Ziel hat die Mittelklasse? Wen wundert es, dass sie versucht, die Oberklasse von deren Platz zu verdrängen und deren Position einzunehmen, um selbst Oberklasse zu werden und die damit verbundenen Privilegien und das soziale Prestige zu erlangen.
Die Oberklasse wird also früher oder später von der Mittelklasse gestürzt. Dieser Prozess verläuft in seinen Grundzügen immer gleich. Wenn die Macht von einer Klasse auf eine andere übergeht, folgt dieser Prozess einem bestimmten Muster: In dem Umfang, in dem die fallende Klasse ihre soziale Macht verliert, gewinnt die aufsteigende Klasse soziale Macht. Über lange Perioden scheint die Oberklasse unantastbar und gesichert, so dass die Mittelklasse in jedem Fall nicht offen an deren Positionen zu rütteln beginnt. Doch nach und nach treten Verfallserscheinungen der Herrscherklasse auf. Ihre Fähigkeiten zu regieren werden schwächer. Das existierende Produktionssystem beginnt zu stagnieren und veraltet. Die Produktivkräfte entwickeln sich weiter, aber ihre Organisationsformen entsprechen nicht mehr den neuen Anforderungen.
Die Oberklasse war zu Beginn ihrer Ära dynamisch, zielbewusst und überzeugt von sich selbst und ihrer Mission in der Welt. Idealismus trieb ihre Vertreter vorwärts, und die Gesellschaft wurde mit Energie und Kraft organisiert und gesteuert. Doch nach und nach verlieren sie an Vitalität und Tatendrang. Die erstrebten Ideale waren entweder erreicht, oder das Interesse an ihnen war am Erlöschen. Sobald dieser Punkt erreicht ist, wird das Klammern an die Macht zur einzigen Triebkraft. Damit hat sich die gesellschaftliche Position der Oberklasse in eine Verteidigungsstellung gewandelt, in der es wird immer schwieriger wird, eine Rechtfertigung für ihre Privilegien zu konstruieren. Ja, ein großer Teil der Oberklasse selbst beginnt, an den moralischen Grundlagen ihrer Herrschaft zu zweifeln. Unsicherheit und Skepsis machen sich in den eigenen Reihen breit. Um dies zu verdrängen, beschäftigt sich die Oberklasse mit ästhetischen Aufgaben und verfällt dem Müßiggang. Genießen wird wichtiger als Schaffen. Damit verliert die Oberklasse ihre einstige Zukunftsorientierung, die zum Führen der Gesellschaft notwendig ist. Der Verlust an sozialer Macht nimmt zu. In dem Maße, wie die Überzeugung und der Wille zum Herrschen geschwächt werden, wachsen der Mut der Mittelklasse, auf die historische Szene zu treten und offen ihren Anspruch auf Übernahme der Herrschaft zu proklamieren.
Die verlorene Macht der Oberklasse wird von der aufsteigenden Mittelklasse absorbiert. Jedes Zeichen von Feigheit und Verfall sowie alle Eingeständnisse von Schwäche seitens der alten herrschenden Klasse werden von einer äußerst wachsamen Mittelklasse registriert und im Kampf eingesetzt. Die Oberklasse wird mehr und mehr bedrängt. Dass die Oberklasse einer unzufriedenen und ambitiösen Mittelklasse Möglichkeiten zum Existieren und Erstärken gab, erweist sich nun als Kardinalfehler. Die Oberklasse kann nur so lange an der Macht bleiben, so lange es ihr gelingt, den aufstrebenden Konkurrenten in Schach zu halten. Sobald dies nicht mehr gelingt, sind die Tage der alten Herrschaft gezählt. Nur eine Oberklasse, die zuerst eine soziale Ordnung errichtet, die der Mittelklasse keinen unkontrollierbaren Spielraum lässt, kann theoretisch gesehen ewig herrschen. Die Oberklasse kann jedoch durch Revolutionen der Mittelklassen bedroht werden, und man darf nicht außer Acht lassen, dass die herrschende Klasse von äußeren Feinden angegriffen und vernichtet werden kann.
Bis heute haben alle Beherrscher von Gesellschaften früher oder später vor der untergrabenden Tätigkeit der Mittelklasse kapituliert. Zeigt die Oberklasse Zeichen von Schwäche wird sie moralisch, ideologisch und materiell von der Mittelklasse bestürmt. Im allgemeinen repräsentiert die Mittelklasse eine mehr zeitgemäße Ordnung, die die Entwicklungsprobleme der Produktivkräfte effektiver lösen kann.
Das bedeutet jedoch nicht, dass eine existierende Machtstruktur auf freiwilliger Basis verändert werden kann. Keine herrschende Klasse hat jemals aus eigenem Antrieb oder Überzeugung den historischen Schauplatz verlassen. Im Gegenteil, eine physisch und moralisch geschwächte Oberklasse ist ein gefährlicher Gegner. Man sollte unter keinen Umständen vergessen, dass der Staat ein Machtinstrument in den Händen der herrschenden Minoritätsklasse ist. Die Oberklasse verfügt über die gesetzgebende, ausübende und rechtsprechende Macht. Außerdem kann sie über Art und Umfang von Informationen bestimmen. Dazu kommt das Kommando über die bewaffneten Streitkräfte. Alle diese verschiedenen Machtinstrumente werden im Klassenkampf von der Oberklasse gegen die Anschläge der ambitiösen Mittelklasse angewendet.
Nun zu einem anderen charakteristischen Muster im sozialen Kampf. Im Kampf gegen die Oberklasse verbündet sich die Mittelklasse mit der Unterklasse, die von einer latenten Aufruhrstimmung geprägt ist. Wie bereits erwähnt, ist das Ziel der Unterklasse Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit. Die Mittelklasse gibt nun vor, diese Ziele zu den ihren zu machen und kämpft unter diesem Vorwand für die Interessen der unterdrückten Unterklasse. Große Worte und Ideale werden auf das Transparent des gemeinsamen Kampfes geschrieben: Gleichheit bei der Verteilung aller Güter, Gemeinschaft, weltumspannende Brüderlichkeit, Glück, Freiheit, Frieden und Verträglichkeit. All dies sind Wünsche und Ideale, von denen die unterdrückte Klasse träumt. Der Mittelklasse gelingt es auf diese Weise, ihren eigenen revolutionären Kampf als Befreiungskampf der unterdrückten Massen zu tarnen. Die Oberklasse wird als Volksfeind denunziert, als unmoralisch und reaktionär verschrieen und mit den schlimmsten Regimen in der Weltgeschichte verglichen. Ihrem Regierungssystem wird die Schuld an alle Unglücken und allem Negativen gegeben. Wird dieses System abgeschafft, so suggeriert die Mittelklasse, dann ist der Weg frei für eine tausendjährige Herrschaft in sozialer Harmonie. Wie der Wolf unter dem Schafspelz so maskiert sich die Mittelklasse als Proletarier. Das Bündnis muss glaubwürdig gemacht werden, also versucht die Mittelklasse, sich als wahrer Vertreter des Volkes zu legitimieren. Ganz nach Notwendigkeit bezeichnet man sich selbst als proletarisch, eignet sich einigermaßen die Sprache und Gewohnheiten der Unterdrückten an, ja kleidet sich selbst im äußersten Notfall wie die Ärmsten der Armen. Gemeinsam, die Mittelklasse als organisierende und die Unterklasse als physische Kraft, wird die Oberklasse vernichtet. Mit einer enormen Kraftanstrengung wird die alte Ordnung zerschlagen und eine neue soziale Struktur etabliert. Die Vertreter der alten herrschenden Klasse werden liquidiert und für alle Zeiten ihrer Klassenherrschaft beraubt. Damit ist die Rolle der alten Oberklasse ausgespielt und die Mittelklasse übernimmt deren Position. Sobald dies geschehen ist, wird die Unterklasse auf ihren Platz verwiesen. Diese Klasse erreicht niemals ihr Ziel. Das ist ihr tragisches Schicksal.
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