Jetzt ist ein Mensch, der, wie der Friseur, andere Menschen verändert, im Prinzip ein interessanter Mensch. Nicht nur, dass Promis ihn wegen ihrer Frisur um die halbe Welt fliegen lassen, sondern auch, weil er maßgeblich beteiligt ist, Promis zu „machen“.
Ein Heer von Models, männlichen und weiblichen Geschlechts, wartet darauf endlich auf die Titelseiten der großen Blätter zu kommen. Denn merke: Je öfter auf dem Titelblatt, desto höher das Honorar. Wenn das keine Motivation ist. Um auf die Titelseiten zu kommen musste man auch bereits damals zwei Fähigkeiten mitbringen. Da war die Überzeugungskraft des Models bei den Redaktionen diesen Wunsch durchzudrücken. Und: Man musste gut aussehen (oder das, was die Redaktion dafür hielt).
Nun ist „gut aussehen“ natürlich eine höchst umstrittene Angelegenheit. Jeder, aber auch wirklich jeder, versteht von „gut aussehen“ etwas, ist schnell mit seinem Urteil bei der Hand und befolgt die eigenen Regeln selten selbst. In Wirklichkeit bestimmt natürlich längst nicht „Jeder“, wer auf Titelblättern stattfindet, sondern die Chefs der Zeitschriften. Die lassen sich nicht so ohne weiteres hereinreden, achten aber sehr wohl auf die Verkaufszahlen ihrer Auflagen. Aber deshalb bestimmen die Kunden – schön wäre es ja – noch lange nicht, was abgebildet wird. Aber der Fotograf und die Visagistin und der Schneider und der Designer wissen es bei der Aufnahme schon zu richten. Und natürlich der Friseur. Natürlich der Friseur, denn nichts kann erotischer sein als Haare. Und weil erotische Haare (und anderes) die Auflagen steigern, bekamen auf einmal Friseure den Ruf von Künstlern. Haarkünstlern. Außerdem hatten einige von ihnen begriffen, dass es nicht ausreicht ein guter Handwerker zu sein, sondern auch, dass zu einem erfolgreichen Künstler eben auch die Selbstvermarktung gehört. Auf einmal hatten Friseure ihre eigenen „Haargestaltung-Events“. Und das Fernsehen war da und die Zeitungen und das Radio, und Haarkünstler waren auf einmal wer. Aus dem Dienstleister, besser, aus einer Handvoll Dienstleistern, war auf einmal eine Handvoll Künstler geworden. Eine völlig neue, aber moderne Kunstrichtung war geboren.
Bereits damals galt ebenso wie heute: Ein Medienereignis ist nur dann ein Medienereignis, wenn die Medien dabei sind. Aber das hatten wir schon. So kamen Friseure, besser, eine Handvoll Friseure auf die Titelseiten der allseits informierenden Presse. Und deshalb durften sie – vorausgesetzt sie waren jetzt bekannt genug – auch fürderhin durch den Haupteingang gehen, wollten sie denn ihr Klientel heimsuchen. Kaum jemand hat damals diese Veränderung bemerkt, aber als sehr demokratisches Element der Handwerkeremanzipation wollen wir es dennoch begrüßen.
Deshalb kam Rolf Jaeger auch zu diesem Event nach Ostberlin. Es war nicht die erste Veranstaltung dieser Art, bei der er mitarbeitete.
So ein Ereignis hat seinen eigenen Reiz. Eigentlich geht es nur darum, dem interessierten Fachpublikum zu zeigen, was demnächst modern ist und wie man es macht. Das ist der Vorher-Nachher-Effekt. Wie sieht ein langweilig frisiertes, uninteressantes Modell vor der Prozedur aus, und was kommt hinterher geschminkt, gut gelaunt und exquisit gestylt von der Bühne. Das einzige, was der Veranstalter braucht, ist eine Bühne, gute Friseure (ein ganzes Team pro Model) und ein Model. Der fachkundige Zuschauer braucht ein gutes Gedächtnis, denn es nützt überhaupt nichts bei dem Vorher-Nachher-Spiel, wenn der Zuschauer das Vorher wieder vergessen hat. Deshalb pflegt man auch eine Großbildleinwand, Videorecorder und Kameras mitzubringen, damit das Vorher wieder in Erinnerung zurückzurufen ist.
Im Prinzip aber ist dies der langweiligere, weil informativere Teil. Deshalb gibt’s fürs Volk die große Show. Dann nämlich treten die Meister ins Rampenlicht, Musik schwillt an und die „Post geht ab“. Das Ganze ist so ein Zwischending von „Berliner Sechs-Tage-Rennen“ und „Deutschland sucht den Superstar“, auch wenn es nur ums Haareschneiden geht.
Gebraucht werden dazu Mädchen mit möglichst langen Haaren aller Farben, am liebsten aber blond. Blond kommt am besten. Diese Mädchen sollten zudem gut anzusehen sein, denn schließlich geht es bei Schönheit nicht nur um Haare.
Jetzt stelle Mann und Frau sich vor: Trompetengeschmetter und Trommelwirbel, der Spot ruht auf dem Meister, psychedelisches Licht auf der Bühne, zuckende Blitze lassen den Saal erzittern, der Meister greift zur Schere. Aktion. Blitzschnell fällt das Haar, lange Strähnen fliegen weg, reißen im Publikum der ersten Reihen Löcher der Begeisterung. Noch hat der Saal nicht genug und das Mädchen eine Kurzhaarfrisur. Der Meister aber thront bei aller Arbeit verbal über allem Lärm der Show, über aller Hektik. Mit kühler Stimme kommentiert er das haarige Schlachtfest und lässt zu keiner Sekunde sein Bedauern über gefallenes Haupthaar verlauten. Mit Föhn und Kamm wird das Mädchen traktiert, die Musik steigert sich zum Crescendo, zum Fortissimo, die letzte Locke fällt, der letzte Sprayer sprayt, erschöpft lässt der Meister den Kamm entgleiten. Das Werk ist vollbracht. Die Zeit: elf Minuten und achtzehn Sekunden. Eine nette Frisur, bisschen kurz vielleicht. Was aber für eine einmalige Show. Gigantisch. Grad so, wie es sich der Meister gedacht hat. Das Publikum tobt und trampelt, das Beste, was es je gesehen hat. Bis zum nächsten Mal. Verbeugung auf der Bühne, scheues Zurückweichen vor den Ovationen der Menge. Hilfloses Hinweisen auf die Helfer, dieses „ich kann es ja nicht alleine, alle sind beteiligt“. Wer aber der Star ist, ist klar. Der Meister weiß wo’s langgeht und der bestimmt auch die Vorstellung. Das Mädchen muss sich jetzt sechs Jahre lang die Haare wachsen lassen, damit sie wieder mitspielen darf. Dann aber ist sie zu alt und wird auf keine Show mehr eingeladen werden. So hart ist das Geschäft mit der Show, wenn’s um Haare geht.
Auch Rolf Jaeger hat bei diesen Shows mitgespielt – als Friseur versteht sich – und es hat ihm gefallen, denn er war noch ein junger Mann. Heute sieht er solche Events differenzierter. Schade um die schönen Haare, sagt er, man hätte aus denen noch ganz anderes machen können. Den Mädchen aber hat’s gefallen, denn auch sie waren jung, unternehmenslustig und endlich standen auch sie mal in der ersten Reihe. Elf Minuten und achtzehn Sekunden lang. Davon werden sie noch ihren Enkelkindern erzählen und vergilbte Fotos herauskramen. Damals, so werden sie sagen können, damals haben wir „Mode“ gemacht, „Trends“ gesetzt.
Die Friseure im Parkett werden nach Hause gegangen sein, um eine Erfahrung reicher, und werden ihre Schere tunlichst von den Haaren ihrer Klientinnen gelassen haben, denn sonst hätte es Krach mit den Ehemännern gegeben. Aber, wie eine modische Kurzfrisur auszusehen hatte, wussten sie nun. Das war ja auch was Schönes.
Die große Zeit dieser Events ist vorbei. Nur noch selten bekommen langmähnige Schönheiten so dekorativ die Haare abgeschnitten, und eigentlich ist dies schade, wo doch um Haare öffentlich so wenig passiert. Der Friseur arbeitet heute mehr im Verborgenen. Nur das Ergebnis seiner Bemühungen wird noch öffentlich gezeigt und pressetechnisch gewürdigt. Medienereignisse bei jedem größeren Ball.
Die Bühnen fürs Haareschneiden sind also abgebaut, die Vorhänge sind gefallen, die Musik ist verstummt, die Scheinwerfer erloschen.
Sind die Scheinwerfer tatsächlich erloschen, die Kameras ausgeschaltet, die Bühnen abgebaut?
Natürlich nicht. Die Ereignisse haben sich geändert. Heute finden die Präsentationen in Studios statt. Nach Drehbuch inszeniert. Auf Takt geschnitten. Verfremdet nach allen Regeln der elektronischen Bildbearbeitung. Video-Clip heißt das Medium und fördert die Bekanntheit der Coiffeur-Stars und das Geschäft Weniger. Millionenfach stärker als früher. Spezialisierte Fernseh-Sender verbreiten das „neue“ alte Schönheitsideal mit dem gesamten Angebot der Zubehörindustrie in alle Welt. Zu jedem willigen jungen, alten, auf jeden Fall aber zahlungskräftigen Kunden. Dabei sein, frei sein, uniform sein. Auch eine Möglichkeit sich selbst zu verwirklichen. Quasi nach Katalog. Das neue persönliche Image wird gleich mitgeliefert.
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