An dieser Stelle sei auch mir mal ein Wort in eigener Sache gestattet:
Als Kind musste ich für einmal Haareschneiden genau 50 Pfennige bezahlen. Eine halbe Deutsche Mark also. Ein Facharbeiter der Stahlindustrie verdiente damals rund 150 Mark im Monat, ohne Überstunden. Die aber waren normal und von der Gewerkschaft abgesegnet. Der Lohn für eine Frisur eines Herren kostete damals rund 1,50 Mark, die einer Dame 4 Mark. Woraus man ersehen kann, dass die Damen den Friseuren schon immer wertvoller waren als die Herren. Das aber wollen wir hier jetzt nicht näher ergründen.
Für mich als Kind waren Friseurbesuche immer schrecklich. Immer fielen mir Haare ins Hemd, immer musste ich mich kratzen und immer war die Aufforderung hinzugehen mit weitreichenden Verzögerungsversuchen verbunden. Bis dann der väterliche Donner ein endgültiges „Aus“ bedeutete. Damals wurde sich noch nicht angemeldet, damals war noch nicht „Wellness“ angesagt, man hatte lediglich ordentlich auszusehen. Sich meiner Haare zu entledigen war im Prinzip für mich eine schreckliche Sache, denn ich hielt es für vergeudete Zeit. Aber so ist das halt, wenn man klein ist und den Tribut an die Schönheit noch nicht zu würdigen weiß.
Mitte der 60ger- Jahre kamen die Friseure zwischendurch mal in Verruf. Nur für eine kleine Gruppe, der ich nun auch angehörte. Nicht etwa, dass ich dem Haareschneiden grundsätzlich abgetan gewesen wäre, sondern vielmehr aus gesellschaftlicher Überzeugung. Dies ließ sich nur durch langfristige Suche nach einem verständnisvollen Fachmann ändern. Die Haare sollten länger sein, die Beatles ließen grüßen. Trotzdem sollte die Länge den Vorstellungen der Eltern – gerade eben so - entsprechen. Die hatten schließlich ihre eigenen Vorstellungen von „gepflegt“. Lang, aber ordentlich war angesagt. Ein gesellschaftlich, haartechnischer Kompromiss eben. Gut war nur, dass der Aspirant – ich eben – meist aushäusig war, weit weg, und von den Eltern nur selten gesehen wurde. Dann war der Besuch beim Haarkünstler eben kurzfristig als „Reparaturbetrieb“ nötig. Später, also nach dem elterlichen Treffen, durfte bis auf Weiteres das Haar machen was es wollte. Auf dem Kopf und im Gesicht eben, Haupthaar und Bart genauer gesagt. So wie mir ist es einer ganzen Generation aushäusig wohnender elterngebundener Söhne ergangen. Über die Probleme von „Töchtern“ habe ich damals zugegebenermaßen nicht nachgedacht. Deshalb können diese auch hier nicht dargestellt werden.
Wenig später begann ich meine Arbeit als Reporter beim deutschen Fernsehen. Das aber ist eine ganz andere Geschichte.
Es ist das Jahr 1989. Ein großes Hotel in Ost- Berlin. Draußen stehen die Stasi-Leute, im Saal rund zweitausend Zuschauer. Die Wende. Gorbatschow unterstützt die DDR-Regierung nicht mehr. Ihr vierzigster Jahrestag ist gerade vorbei. Das Land ist am Ende.
Am Tag zuvor hatten wir in Berlin/Ost noch einen Vertreter der evangelischen Kirche zur aktuellen Situation in der DDR befragt. Er äußerte sich skeptisch. Ich war mir sicher, dass die Staatssicherheit das Interview mithörte. Sie war überall.
Über die Straßen Dresdens und Leipzig bewegen sich Menschenmassen und rufen „Wir sind das Volk“. Die bundesrepublikanische Botschaft in Prag ist voller Menschen, die ihre Ausreise in den Westen erzwingen wollen. Genscher verhandelt. Kohl reist nach Polen. Mit der Wiedervereinigung rechnet niemand.
Dann werden die Grenzen geöffnet, ganz plötzlich. Verkündet am 9. November 1989 vom Mitglied des Zentralkomitees der SED Günter Schabowski. Auf einmal ist die Mauer durchlässig. Unkontrolliert strömen die Menschen nach West-Berlin und nachts wieder zurück. Die ersten Mauerspechte nehmen den sogenannten „Antifaschistischen Schutzwall“ auseinander.
Für eine Sendung über die Grenzöffnung in Nordhessen sollte ich ganz schnell über Kassel nach Eschwege kommen. Kaum war ich im Studio in Kassel angekommen, da wusste der Produktionsleiter dort, dass ein Durchkommen mit dem Auto nach Eschwege unmöglich war. Er hatte bereits einen Hubschrauber bestellt. So flog ich also über nordhessische Landstraßen und sah Trabis. Unendlich viele qualmende Trabis, die über viele Kilometer alle Landstraßen verstopften. Dort unten passierte erst einmal nichts mehr.
In Eschwege dann viele Leute aus der DDR, die bei uns so lange in Anführungszeichen stand. Im Prinzip sahen die Leute genauso aus wie wir, vielleicht nicht ganz so viel Jeans, vielleicht nicht ganz so modern in der Ausstattung, anders aber waren sie in ihrem Verhalten. Verblüffter, zurückhaltender, aber oftmals auch zufriedener. Die Damen hatten häufig toupierte Hochfrisuren, zurechtgemacht wie für einen Theaterbesuch. Die Herren unterschieden sich auf dem Kopf wenig bis gar nicht von ihren westlichen Geschlechtsgenossen. Der Mann an sich war haartechnisch anscheinend weniger modebewusst. Aber schnell gab es eine große Gruppe in der westdeutschen Industrie, die das ändern wollte.
In das prachtvolle Hotel in Berlin Ost hat eine große westdeutsche Firma geladen. Sie stellt Haarkosmetika und Friseurbedarf her. Die will nun auf den ostdeutschen Markt drängen. Ein Milliarden-Geschäft. Wie aber soll man dem Friseur aus der „Noch“-DDR die Produkte schmackhaft machen?
Wie immer, wenn Westler im Osten auf Ostler stoßen in jener Zeit: Misstrauen der Staatsregierung der Noch-DDR. Sie weiß, sie ist am Ende, will sich aber weiterhin halten. Wie auch immer. So demonstriert die Staatsmacht – ebenfalls wie immer – Präsenz. Wie hoch der Anteil an Staatssicherheitsleuten unter den Besuchern in dem prachtvollen Hotel ist lässt sich nicht sagen, viele der Beobachter aber schauen bedrohlich ernst drein, interessieren sich nicht für die Präsentationen, wirken ablehnend.
Aus dem Westen waren sie im Bus angereist. An der inner-Berliner Grenze fast das übliche Spiel. Hineinfahren in den Drahtkäfig der Grenzstation, warten auf die Papiere, misstrauische Blicke. Besucher aus dem kapitalistischen Westen sind unerwünscht in jenen Tagen. Aber: Visum oder Besuchsgenehmigung ist nicht mehr nötig. Die DDR muss sich öffnen. Pläne diese kapitalistische Übernahme abzuwenden, liegen in der Schublade. Bewaffnete Kräfte stehen in den Bereitstellungsräumen. Deutschland in der Vorstufe zum Bürgerkrieg.
Peter Ochs hat den Auftrag, die Firma zu repräsentieren. Ein erster Versuch. Ochs besitzt eine Kette von Friseurläden, europaweit. Er gehört dem exklusivsten Coiffeur-Verband an, den der Westen zu bieten hat, und er besitzt eine seltene Fähigkeit. Er kann gleichzeitig arbeiten und reden. Er ist der Chef der Show.
Zusammen sind sie rund 30 Leute. Friseure, Models, Techniker. Dazu die Firmenvertreter. Die wollen hinein in den Markt, ran an die Spezialisten für Haare im postsozialistischen Ausland. Viele Friseure, sollte sich die politische Situation weiter entspannen, könnten sich selbständig machen, könnten Kunden werden. Der Markt wird sich dann unter den drei großen Zulieferern aufteilen. Wie im westlichen Europa auch. Es ist die Zeit der schnellen Entscheidungen und die der jungen, alerten Herren mit den Lederkoffern, die gekommen waren um die Leute im Osten zu bescheißen.
Um 19 Uhr ist der Saal bereits brechend voll. Noch bauen die Techniker Friseurgerät und Fernsehequipment auf. Die Lichtleitungen reichen nicht aus. Aggregate werden aus West- Berlin herangeschafft. Wer jetzt die bessere Show liefert, wer zu diesem Zeitpunkt sich Zugang zu den Haarkünstlern verschafft, wer jetzt die „Noch“-Machthaber zu Verträgen bewegen kann, der hat es geschafft. Derweil blickt die Stasi misstrauisch auf das eigene Volk.
Ochs ist ein Künstler nicht nur in Sachen „Haaren“. Er beherrscht den Tanz auf der Bühne. Das Spiel mit dem Publikum. Schere und Chemie, er hat den Blick für das Außergewöhnliche. Normalität interessiert ihn nicht.
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