Heimlich hoffte der väterliche Freund, der Junge würde ihm sein Herz ausschütten. Vieles in seiner Ehe war nicht in Ordnung, das spürte er. Sein untrüglicher Instinkt täuschte ihn nicht. Doch bisher schwieg sein geliebter Schützling beharrlich. Der strahlende Sonnenhimmel hatte sich verzogen. Dicke Wolken versetzten den Raum in diffuses Dämmerlicht.
„Die ideale Spiegelung meines verpfuschten Innenlebens“, lallte Alain kaum verständlich. Schwere Tropfen klatschten an die riesigen Fenster. Dröhnen an den Scheiben. Dröhnen in seinem Kopf. Diesen trostlosen Zustand verspürte er immer öfter, und immer seltener konnte er dagegen ankämpfen. Hatte er genug Alkohol intus, entschlummerte er meist schlagartig. Keine quälenden Gedanken mehr, die ihn im Wachzustand zermürbend folterten.
„Ich habe das eigentliche Ziel völlig aus den Augen verloren“, lallte er kaum verständlich. „An alledem ist nur dieses verrückte Weib schuld, das mich andauernd managt, mir vorschreibt wohin ich zu gehen habe, mit wem ich mich treffen muss, was ich tun soll. Die Tragik daran ist, dass dieses Biest verdammt wichtige Leute kennt, und diese Treffen meist auch noch ein positives Ende finden.“ Ein Hilfeschrei aus tiefster Seele. Nicht selbst diese Verbindungen angeleiert zu haben, zermürbte ihn. Marie bestimmte stets mit wem er verhandeln sollte. Marie, dieses noch immer abgöttisch geliebte Ekel.
„Ich bin verzweifelt und glücklich, traurig und froh“, stöhnte er triefend vor Selbstmitleid. Bernard ließ ihn reden. Fetzen, bruchstückhafte Wahrheiten würden hoffentlich ans Licht kommen, eine Hilfestellung endlich möglich machen.
„All diese Gedanken verfolgen mich in meinen schlimmsten Wachträumen. Ich fühle mich grenzenlos gleichmütig, gleichzeitig maßlos erregt. Ich fühle das Fieber, die angespannte Hoffnungslosigkeit. Die Leidenschaft eines Glückspielers, der weiß, dass er verlieren muss, und nicht die Kraft besitzt, rechtzeitig aufzuhören. Von Zeit zu Zeit bleibt mein Herz fast stehen, doch ich reagiere völlig unkontrolliert unter einem unerklärbaren Zwang, einem riesigen Hass auf mich selbst.“ Seine Stimme bekam einen weinerlichen Klang.
„Ich habe das Gefühl, meine Liebe zu Marie-Louise ist nur mehr eine Sehnsucht nach dem Paradies, in dem wir einst alle Hochgenüsse auskosten durften. Aus welchem man uns zwar nicht vertrieben hat, aus dem wir aber selbst geflohen sind. Meine himmelstürmenden Vorstellungen vom Glück. Ein Fiasko. Eine erbärmliche Niederlage. Sie geht über Leichen. Womöglich sogar über meine.“
Alains Glas war zum x-ten Mal leer getrunken. Trotzdem schenkte er sich wieder nach. Nach Hause wollte er nicht. Bernard machte keinen Versuch, ihn an seinem Besäufnis zu hindern. Leise Musik von Col Porter klang durch den Raum. Alain summte unverschämt falsch mit. Irgendwann schlief er schlagartig ein.
Als er erwachte strahlte ihm der Mond mitten ins Gesicht. Zahllose Sterne standen am schwarzen Firmament. Seine Füße waren steif, sein Rücken schmerzte. In seinem Schädel rumorten schlagende Wetter. Leicht schwankend kroch er unter die kalte Dusche. Bernard lag verkrümmt in seinem Fauteuil. Die Brille baumelte absturzbereit am offenen Hemdkragen.
„Blödmann“, grunzte Alain halblaut, „charakterloser Versager ohne Disziplin und Verantwortung. Nicht einmal dir selbst gegenüber.“
Sein Lachen klang süffisant. „Kaum musst du dich vor deiner Frau behaupten, wirst du zum unterwürfigen Zwerg, der es nicht wagt seine Meinung zu äußern. Du bist ein ausgewachsener Depp, mon cher ami.“ Gierig griff er nach einem halbvollen Glas „Merde, schmeckt das schale Zeug ekelhaft.“
Alain spie die gelbe Flüssigkeit auf den schönen Teppich, den Bernard wie seinen Augapfel hütete. Griechische Handarbeit aus vergangenen Tagen. Ein Erinnerungsstück, über dessen Herkunft er sich beharrlich ausschwieg.
„Dann eben nicht“, säuselte Alain vor sich hin, „soll er doch sein Geheimnis haben. Er steuerte auf den großen Fensterflügel zu, riss ihn weit auf. Ernüchternde Kühle traf seinen erhitzen Körper.
„Eine herrliche Stadt, die ich mir da ausgesucht habe!“ Ergriffenheit übermannte ihn. In der Ferne Stufen, die in den Himmel zu führen schienen. Darüber ein im Dunst schwebender Sakralbau aus weißem Stein. Die Silhouette von Sacre Coeur. Verspielte Kuppeln und Türmchen, Bäume rundum. Wie oft war er dort hinaufgerannt, wenn sein Herz zu schwer wurde. In letzter Zeit immer öfter. Eine Stadt pulsierenden Lebens, mit allem Schönen und Hässlichen, allem Guten und Bösen, bei Licht und im Dunkeln. Er hatte unendlich viele Erfahrungen gemacht, hatte mit Menschen verschiedenster Nationen diskutiert, ihre Charaktere studiert, wurde ein tüchtiger, gewiefter Geschäftsmann.
„Bei Gott, ich habe mir ehrlich Mühe gegeben. Und was ist jetzt aus mir geworden? Ein abhängiges, willenloses Kind, das ängstlich nach der schützenden Hand des Vaters greift.“ Kindheit ist das, was du für den Rest deines Lebens zu überwinden versuchst, hatte Bernard einmal zu ihm gesagt. Würde er es jemals schaffen?
„Ich brauche dich Bernard, lass mich bitte nicht allein!“ Unvermittelt sank er auf die Knie, umarmte den väterlichen Freund. Herzzerreißendes Schluchzen erfüllte den Raum. Erschrocken fuhr Bernard hoch.
„Mein Gott Junge, komm, steh auf. Jetzt wird alles wieder gut.“ Wenig später erfüllte frischer Kaffeeduft den Raum.
Heilfroh, hier und nicht daheim aufgewacht zu sein, schlürfte Alain Bernards Spezialgetränk, das Tote wieder zum Leben erweckte. Langsam wurde es hell.
Sonntag. Kirchenglocken. Friede breitete sich über der Stadt und in Alains Herzen aus. Die aufgehende Sonne ließ den Himmel golden strahlen. Die braunen Möbel schimmerten beinahe orange. Rasch zog er sich um, stand dann wieder beim offenen Fenster, ließ sich von der kühlen Brise durchblasen. Bernards starker Arm lag auf seiner Schulter.
Gleich groß waren die Männer. Der eine etwas korpulenter, mit leichtem Bauchansatz, den er aber geschickt zu kaschieren verstand. Mit seinen maßgeschneiderten Anzügen wirkte Bernard schon seit Jahren gleich bleibend jugendlich. Seine Augen blitzten, sein Haar war immer noch dicht, von Silberfäden durchzogen. Er hatte die Gelenkigkeit einer Katze, konnte sich auch wie ein solche lautlos bewegen. Und er war die Güte in Person, zumindest was Alain betraf. Gütig waren seine Augen, die Züge seines Mundes, der Klang seiner Stimme, jede seiner Gebärden.
„Ob ich dir je ähnlich werden kann?“, stammelte Alain zögernd. „Ich will es jedenfalls versuchen. Dein Selbstvertrauen, deine Rechtschaffenheit, deine Größe. Ich verehre dich wie ein Sohn und bin dankbar, dass du mir das Gefühl gibst, ein solcher zu sein!“
Mutig begann Alain wenig später teils sich selbst anzuklagen, andern teils über Marie-Louise herzuziehen. Doch in all seinen Klagen und Beschuldigungen klang unmissverständlich durch, wie viel Liebe er immer noch für seine Frau empfand.
„Ich bringe einfach nicht die Kraft auf, mich von ihr zu trennen, oder wenigstens meine seelische Unabhängigkeit zu finden“, würgte er heraus.
„Du zerfließt in Selbstmitleid, mein Junge. Glaubst jämmerlich, schwach, ja klein geworden zu sein. Steh wieder auf beiden Beinen. Frauen verfügen ganz einfach über eine höhere emotionale und soziale Kompetenz, sind daher anspruchsvoller als der Rest der Welt. Das hat nichts mit der Vergänglichkeit ihrer Schönheit zu tun, oder mit der Hysterie, die sie provokant einsetzten, um uns Männer zu willenlosen Scharlatanen zu machen. Ein süßes Betthupfern am Polster lässt Herzen schmelzen. Frühstück im Bett – Orangensaft, Toast und eine rote Rose sagen mehr als tausend Worte. Wahre Liebe ist, wenn sie dir die Krümel aus dem Bett fegt!
Nimm dein Schicksal selber in die Hand. Tritt deinem holden Weib als Mann entgegen. Genieße ihre profitablen Geschenke gelassen und mach für dich das Beste daraus. Was im Leben wirklich zählt ist diese wahre Liebe. Von der hast du noch reichlich, das habe ich jetzt erkannt. Es gibt keine Zufälle. Alles ist vorherbestimmt. Das Leben läuft nach einem unverrückbaren Plan ab, den wir kaum beeinflussen können. Alles was in dieser Schöpfung passiert, ist determiniert. Du lebst mit Marie, weil es so sein soll – sei es nun zum Guten oder zum Schlechten, auch das ist bereits festgelegt. Vertrauen ist die Oase deines Herzens, in der die Karawane deines Denkens niemals ankommen wird. Komm, nimm noch einen Schluck Kaffee!“
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