Bei ihrer Berührung waren die silbergrün lackierten Fingernägel mit einem fühlbar sanften Geräusch über sein Kinn geknirscht. Doch eigentlich war es kein Knirschen gewesen, er hatte sich dieses kleine Geräusch nur eingebildet, da er es vermisste. Es gab keine Bartstoppeln, die dieses feine Knirschen der Erinnerung hätten hervorzaubern können, und es hatte lange keine Frau gegeben, die mit ihren Fingernägeln an ihm entlang geschlendert war. Bis jetzt, bis zu diesem Moment.
Paul hatte in schnellen, unhörbar kurzen Stößen die Luft eingesogen und langsam wieder ausgeatmet. Dieser unerhörte Duft hatte seine Übelkeit vertrieben, hatte Paul, den dürren Ritter ohne Orden gestreift und ein Gefühl von Ankunft hervorgerufen. Ihr besorgter Blick auf ihn, hatte sogar den Ansatz eines spöttischen Lächelns in seine abweisende Grimasse zaubern können.
Wie lächerlich unnötig war diese kleine Besorgnis einer Unbekannten um seine Lippe, um einen kleinen vergifteten Blutstropfen, oder zwei. In Relation zu der Situation, in der er feststeckte, war es wirklich absurd. Sein Geruchssinn schlich um diesen besonderen Duft. Paul schnupperte wie an einen Notbremshebel, der seine flüssigen Gedankengänge über das Verderben ins Stocken gebracht hatte und ihm einen Hauch von Frühling schenkte. Der Duft war es und ihr Blick, auf den Rest konnte er verzichten.
Das war ein äußerst unsinniger Gedanke, eine Frau konnte man nicht wie durch ein Sieb pressen und sich die Rosinen herauspicken. Paul forschte, wie er trotzdem diese beiden Annehmlichkeiten in Anspruch nehmen könnte, ohne die ganze schillernde Person ertragen zu müssen. Annehmlichkeiten, die sein Leid einige Momente lang verdrängt und ihn so ungewohnt und unerwartet erwärmt hatten.
Seine Libido war durch die gelobten Errungenschaften der medizinisch pharmazeutischen Wissenschaft und durch seine erlebte Liebestragödie in den Tiefschlaf versetzt worden. Wobei Paul nicht zu sagen wusste, was erstrangig zuständig war für dieses Schlafbedürfnis. Doch sein Geruchssinn hatte nun einen winzigen Zipfel dieser Libido ergriffen und sanft an ihr gerüttelt. Was sollte es sonst gewesen sein? Woran sonst konnte sein Geruchssinn gerüttelt haben? Wonach roch diese Frau so ungewohnt und wohltuend? Es war nicht einmal ein nennenswert guter Geruch, es war einfach „ihr“ Geruch. Vielleicht war es nur dieser lächerliche, von Spitzen umsäumte Lappen in ihrer behandschuhten Hand. Wie und woher zauberte sie außerdem, hier in dem trüben Busgetümmel, diese Glut in ihren Blick. Glut vermischt mit unerwarteter Güte.
Sie hatte nun ihren fein gelöcherten Lederhandschuh mit den Zähnen abgestreift und wenige Millimeter dieses Leders immer noch lässig, zwischen höchstens drei ihrer gepflegten Zähne eingeklemmt. Der Handschuh hing seitlich an ihrem Kinn, während sie ihn betupfte! Paul ließ sie gewähren.
Der zweite Handschuh, der mit dem Taschentuch, war an ihrer Hand geblieben. Was Paul zu ungläubigem und gleichzeitig spöttischem Grinsen veranlasst hatte, war nicht nur der Handschuh, der wie apportiert an ihrem Kinn hing oder die alberne Mühe um seine aufgesprungene Lippe, sondern auch ihre plötzlich veränderte Sprechweise mit diesem Stückchen Leder zwischen den Eckzähnen. Sie brachte zwar noch verständliche Worte hervor, trotzdem hatten diese Worte eine unbestreitbare Ähnlichkeit mit Pauls Sprechversuchen. Das rief eine weit greifbarere, eine verständlichere Zugehörigkeit in Paul hervor als diese Art gemeinsamer Zeitstillstand des Momentes zuvor.
Der Busfahrer lenkte seine hustende Fracht durch einen Stadttunnel. In diesem gedämpften Licht schätzte Paul sie auf etwa Mitte oder Ende Dreißig.
Was sollte das? Warum strebte sein Gehirn zu einer Altersschätzung. Flink und unkontrollierbar forschte es nach dem Alter dieser Frau. An der Tunnelausfahrt, etwa Mitte Vierzig, und als sie zurück in das Licht des späten Schneevormittages tauchten, hätte diese Dame, nach Pauls Schätzung, auch die Fünfzig schon erreicht haben können. Das änderte nichts an ihrem Duft, dem Hauch von Etwas, das in Paul hineingestürmt war und ihn belebte.
Im Koordinatensystem seiner Wahrnehmung gab es offensichtlich einen Schnittpunkt, an dem sich das äußere Geschehen mit seinem Inneren, seinem Unbewussten spürbar traf. Der geheimnisvolle Duft hatte diesen Punkt ergriffen. Zahlreiche Töne beider Welten trafen in Paul aufeinander, sie wurden von ihm intensiv und gleichzeitig empfunden.
Dann, ein plötzliches Verstummen, ein Wimpernschlag lang noch bebten die Töne in ihm nach, dann fielen sie in sich zusammen, wie ein feinster Aschehügel über einem kleineren Erdloch. Und es schien Paul, als polterten sie in ihrer Lautlosigkeit. Und schon hatte er sich von einer frühesten, unbewussten Erinnerung abgewandt und sich für die gegenwärtige Außenwelt entschieden.
Der Bus stoppte. Paul entdeckte winzige Fältchen am mittleren Ohransatz, haarfeine Hautrillen die ihm entgegen lächelten. Sie hatten sich mit Hilfe der Zeit genau dort gebildet, wo der äußere Teil des Gehörorgans, der kleine muschelförmige Knorpel, seinen konkaven Bogen ansetzte. Die zugehörig berühmten Läppchen wurden von schwerem Ohrschmuck ein wenig heruntergezogen. Kein silbriges Haar ließ sich blicken. Dann bemerkte Paul, auf seiner kurzen Entdeckungsreise über dieses Gesicht, feine, strahlenförmige Linien über der stark geschminkten Oberlippe.
Sie lachte, und Pauls Aufmerksamkeit erheischte eine Lippenstiftspur auf einem ihrer Vorderzähne. Er zog seinen zerknitterten feuchten Mundschutz aus der Tasche, suchte einen trockenen Zipfel und beugte sich ein wenig zu ihr hinab. Dann bleckte er unmissverständlich seine Zähne vor ihr und näherte sich mit dem Mundschutz umwickelten Zeigefinger ihrem Gesicht. Sie hatte verstanden, gehorchte wie ein folgsames Kind, dem man die Nase putzen will, reckte ihm ihr Gesicht entgegen und zeigte ebenfalls ihre Zahnreihe. Paul entfernte das leuchtend fettige Rot von ihrem Zahnschmelz und zeigte ihr den kleinen Fleck wie eine Trophäe.
„Jetzt sind wir quitt“, meinte sie lachend. Es kam keine Peinlichkeit auf, als hätten sie sich seit Ewigkeiten unpassende Tropfen gegenseitig aus dem Weg gewischt.
Endstation Flughafen, Paul hatte seine Station verpasst, schon längst. Er nahm ihre Einladung zu einem Kaffee mit Mittagessen an, obwohl er befürchtete keinen Bissen schlucken zu können, ohne dass er kotzen müsse. Außerdem wäre es nicht einfach, etwas Geeignetes für ihn auf der Speisekarte zu finden, denn seine Mundschleimhaut lag in Fetzen. Sie war durch einen hartnäckigen Pilzbefall an ihre Grenzen gelangt. Ein weiteres Übel der vielfältigen Nebenwirkungen seiner Chemotherapie.
Alternd, dieser Begriff kam Paul noch kurz durch den Sinn, bevor er ihr beim Aussteigen spöttisch galant behilflich war. Schwindelerregend hohe Absätze zierten ihr gebrechlich zart wirkendes Schuhwerk, das ein wenig bis über ihre Fußgelenke reichte und im salzigen Schneematsch zu versinken drohte.
Alternd? Wie abwegig dieser Gedanke, alles ist alternd, nicht nur eine Frau, die versucht durch ihre Aufmachung davon abzulenken. Und dann bemerkte Paul, dass er sie um dieses Alter beneidete. Ein Alter, das er wahrscheinlich, so wie es im Moment aussah, nicht erreichen würde. Wie lebendig sie wirkte, sie verkörperte beneidenswerte Gesundheit. Sie gingen nebeneinander her. Paul fühlte sich plötzlich hilflos, er hatte schnell beide Hände tief in seine Jackentaschen geschoben und wusste nicht, was ihn an ihre Seite fesselte. Seine Schultern waren hochgezogen, bis zum Ansatz seiner Mütze. Seine zierliche Begleiterin hakte sich bei ihm ein und tänzelte neben ihm her. Dabei hing sie fast an ihm, und Paul sah sich gezwungen seinen Schritt zu drosseln.
Was machte er plötzlich am Flughafen? Was wollte er von dieser Frau? Er sollte schleunigst nach Hause, sich in seinem Bett verkriechen, bevor ihn die heutige Verabreichung seiner Chemoinfusion umhauen würde. Er fror immer noch erbärmlich, aber er blieb und beugte sich statt-dessen ein wenig zu ihr hinunter und schnüffelte an ihrem Haar. Und wieder dieser Duft! Er sog tief und gierig dieses Sonderbare ein, etwas, das nach Leben und gleichzeitig nach Geborgenheit duftete.
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