Paul war lang, dürr und wenig mutig, ein kranker Ritter, sein Schwert war die Wollmütze. Trotzdem, er hatte den Eindruck, als erwartete sie, dass er sie ebenfalls mit Komplimenten überschütte. Wie Unrecht er hatte!
Er vernahm weiterhin ihr ununterbrochenes Klappern, als bemühe sie sich krampfhaft, ihn zu beeindrucken, um sein Vertrauen zu gewinnen. Er zeigte eine gequälte Mine mit einem Ausdruck der Bitte, ihn in Frieden zu lassen. Er bedauerte, das nicht sagen zu können. Verdammt, was ging ihn diese fremde Person überhaupt an!
Paul fühlte sich durch ihre übertriebene Aufmerksamkeit nicht nur belästigt, sondern auch bestürzt. Solches und ähnliches Gehabe um seine Person war immer wieder verletzend, da er wusste, dass all diese abgedroschenen und doch süßen Worte um eine erwünschte Bekanntschaft mit ihm, sich in betretenes Schweigen auflösen würden, sobald der fremde Ausrufer den Fehler erkannt hätte. Pauls Fehler!
Denn Paul war nicht in der Lage zu antworten. Zumindest nicht mit normal verständlichen Worten. Seine Blicke, Gesten, Mimik und Körperbewegungen, das war seine Sprache. Er konnte schreien, die Kehle funktionierte und er beherrschte die zungenlosen Buchstaben und Laute, Zustimmungen oder Verneinungen, die sich mit den Kehllauten zufrieden gaben. Auch wenn diese Laute gerne im Rachen steckenblieben, als hätte sich ein Wollfäustling darüber gefaltet. Laute, die keine Zunge benötigten, das waren seine Übergangsretter. Retter, die er inzwischen auf eine Art von sich zu geben wusste, ohne dass man auf ihn wie auf einen Schwachsinnigen reagierte oder ihn behandelte, als sei er im Zustand der Volltrunkenheit. Denn so erschien es dem Zuhörer, wenn Paul mit den Silben rang, wenn er versuchte verständliche Worte über seine Lippen zu würgen. Außerdem antwortete man ihm, wenn seine unstimmigen Laute erklangen, wenn man seinen „Fehler“ erkannt hatte, ungehörig laut. Dann wurde geschrien, als sei er zusätzlich gehörlos.
Niemals wieder würde er versuchen, gegenüber Unbekannten, das Wort als Mittel der Kommunikation zu wählen. Es gab allerdings auch Menschen, die sich mit ihm unterhielten und nicht einmal bemerkten, dass er nicht sprach. Dann nahm er an einem Gespräch nur mit dem Laut einer Zustimmung, Verneinung oder einem Hmhm teil. Ein Hmhm, mit dem fragenden Sound nach oben, reichte ihnen. Dann waren nicht einmal seine mühsam einstudierten Silben ohne Zungenlaute nötig.
Diesen Menschen galt er als besonders angenehmer Gesprächspartner. Die willkommene Wichtigkeit, eines weniger aufmerksamen als stummen Zuhörers, offenbarte sich ihm erstaunlich oft. Paul gab keine missionarisch gefärbten Ratschläge, nie protestierte er lauthals oder behauptete hartnäckig das Gegenteil, und niemals unterbrach er einen Redeschwall. Etwas, was ihn so ungeheuer köstlich für ein redefreudiges Gegenüber erscheinen ließ. Jene Wenigen, die wussten, dass er nicht sprach, brachten ihn erst gar nicht in die vermeintliche Verlegenheit einer erwartenden verbalen Antwort. Und Jene, die es weder wussten noch bemerkten, ereiferten sich genügend an ihren eigenen Worten.
Der auffallend attraktive und einst so sprachgewandte Paul entschied, meist schon nach den ersten Sekunden einer Begegnung, sein Lächeln aufzusetzen, während er in eine gedankliche Abgeschiedenheit floh. Diese Situationen, die er versuchte zu vermeiden wo immer es ihm möglich war, strengten ihn ungeheuer an. Er war sehr müde geworden, nur Laute, wie diese Ahs und Ohs oder auch Hms, mit oder ohne Fragezeichen, waren ihm im Notfall noch zu entlocken. Er isolierte sich vollends. Es sei denn, sein behandelnder Arzt saß ihm gegenüber.
Paul, der Schönheitschirurg, hatte keine Zunge mehr, sie war ihm gestohlen worden. Abgeschnitten und verschwunden! Er war ein junger, gutaussehender Mann gewesen, ein wenig leidenschaftlich engagierender Chirurg und ein flügelloser Vogel nun.
Paul hatte am späten Morgen, in der Nähe des Klinikgeländes, an einer Bus Haltestelle gestanden. Er hatte zuvor jede hilfreiche Begleitung energisch abgewiesen.
Es zeigte sich keine Richtung. Er drehte sich langsam ruckweise nach links, ohne bewussten Bedacht in dieser Bewegung, willenlos von seinem Körper vollzogen, wie in völliger Abwesenheit. Seine Füße begleiteten sich im Gleichruck und gaben zentimeterweise diesem abwesenden Wunsch der Drehung nach. Ohne seinen Standpunkt zu verändern drehte Paul sich langsam um sich selbst. Das symbolisierte seinen derzeitigen Lebenszustand. Einmal links herum und einmal rechts herum. Dreihundert zweiundsechzig Grad, zurück und im Kreis.
Er schloss die Augen nicht, die Arme hatte er weit von sich gestreckt, es schien, als suche er Empfang, und er bohrte sich dabei unmerklich langsam in die Tiefe. Ein oberflächlicher Beobachter hätte ihn, seiner Bewegung und seinem glasigen Blick nach zu urteilen, für einen Geisteskranken halten können. Nur ein Geisteskranker verhielt sich so, oder ein Kind, ein abwesend spielendes Kind.
Unter seinen Füßen hatte sich ein perfekter Kreis in den Sand gescharrt, sich hinein geschraubt. Sandhäufchen, die sich wie längliche Dünen seitlich der Schuhsohlen gebildet hatten, wurden langsam fast unmerklich aus dem runden kleinen Feld hinauf geschoben. Sie verstärkten den äußeren Rand des Kreises, es entstand ein kleiner, runder Damm.
Das Unbekannte existiert überall, rundherum, in jedem Millimeter, undefiniert aber vorhanden verbirgt es sich in dem Bekannten. Paul roch es deutlich. Ein Schwarz, unendlich und doch ersehnt, und manchmal schnellte es hervor. Es gab Tage, da wurde er schon beim ersten Zeichen des Erwachens von diesem Schwarz und seinem Angstnebel geknebelt. Das Unbekannte lauerte dann wie ein Abgrund des Endes, als Unvorstellbarkeit, als Gewinner des Hohns. Sein Tagesablauf, seine Schritte, Atmung oder Hungergefühle, besonders die voluminöse Medikamenteneinnahme, all das erschien ihm dann völlig absurd. Dieser Zustand verwandelte ihn in einen Regenwurm, der versucht einen Schmetterling zu fangen.
An anderen Tagen konnte das Schwarz in ihm die Stimmung der Bewegung erzeugen, des Abenteuers, der unbedingten Aufforderung, dieses Schwarz mit Licht und Farben bekannt zu machen. Dann schien es alles beinhalten zu können und in seinem Dunkel sogar zu glänzen, ebenso wie in seinem erfundenen Duft des Lichtes. Dann war die Angst wie ein Freund, der zum Leben aufrief, zum Kampf. Gegensätze im allgemeinen Inhalt, der Hoffnung und des Abgrundes.
Kein Abgrund kann, konnte und wird jemals unendlich sein. Jede Tiefe erreicht unabänderlich, irgendwann ihren tiefsten Punkt als Ende. So wie jedes Wachstum für immer und ewig, am Ende jeder Höhe oder Schwere, seine Grenzen als Tod erfährt. Und genau dort, an einem dieser verschiedenen, unzähligen Möglichkeiten des Endes, ist ein Irgendetwas. Das wusste Paul, anders konnte es nicht sein. Nichts kann nicht das Ende des Abgrundes sein, keines Abgrundes, auch nicht Pauls. Und wenn es nur ein Sandkorn ist, eine Zelle, eine Spore oder die Hoffnung. Etwas wartet immer dort unten.
Aber er glaubte ebenfalls, dass es ein Immer nicht gibt. Weder ein Immer, noch ein Immer für Etwas. Diesen Gegensatz, zwischen der immer wartenden Spore und dem fehlenden Immer, spürte Paul ganz deutlich, als hätte er ihn schon durch den Tod seiner Liebsten gelebt. Und genau das gab ihm in diesen Momenten die Kraft, das Nicht-Immer an seinen Platz zu verweisen. Dann gelangte er meist hinaus aus diesem Zustand, zurück in das normale Leid, und die Lippenknabberei.
Er war schlotternd vor Kälte in den Bus gestiegen. Kein Sitzplatz frei. Seinen Wagen hatte er auf dem Parkplatz der Universitätsklinik zurückgelassen. An diesem Tag hatte er sich unfähig gefühlt, ihn selbst noch zu fahren. Die Muskeln seiner verlorenen Augenbrauen zogen sich leicht über der Nasenwurzel zusammen, die Stirn lag in Falten.
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