Einige Tage vor dem Tod des Vaters hatte sich ein kleiner Zwischenfall ereignet.
Paul war kein Fernsehfan. Er mochte keine Krimis, hasste Quizsendungen und Unterhaltungskram mit viel Spektakel. Amerikanische Action Filme beurteilte er als völlig überflüssig auf dieser Welt, und er interessierte sich nicht im geringsten für Satire, für Politik auch nicht. Da blieb nicht viel für ihn übrig, außer einigen Reportagen oder Dokumentarfilmen, die sich allerdings für seinen Geschmack zu häufig wiederholten. Den Rest erfuhr er wie nebenbei in der Klinik oder aus der Zeitung. Doch manchmal, wenn er in der Kantine seinen Kaffee trank, ließ es sich nicht umgehen den Blick auf einen ständig eingeschalteten Fernsehapparat zu werfen. Bei einem dieser geistesabwesenden Zufallsblicke erschrak er und verschluckte sich heftig. Das Gesicht eines Mannes auf dem Bildschirm hatte diesen Schreck ausgelöst. Paul stellte hastig seine Tasse ab und starrte auf diese Person.
Die Einstellung wechselte, er glaubte sich getäuscht zu haben. Doch dann tauchte dieser Mann wieder auf, er sah Paul zum Verwechseln ähnlich, obwohl er eine Melone trug und einen offensichtlich mit Absicht falsch herum angeklebten Charlie Chaplin Schnauzbart. Dazu trug er eine grellgelbe, übergroße Brille mit auffälligem Tigermuster. Trotz dieser Aufmachung, die Paul idiotisch lächerlich fand, konnte er sich in diesem Mann erkennen. Er war etwa in seinem Alter. Was Paul nicht bemerkte war, dass dieser Mensch ihm nicht nur physisch glich, sondern dass er auch mit seiner Stimme parodierte, obwohl ein englischer Akzent herausrollte. Eine besonders raue, Pauls aufgeraute tiefe Stimme! Eine Krankenschwester, die sich interessiert, Käsebrötchen kauend neben ihn gestellt hatte, machte ihn darauf aufmerksam.
„Verehrter Herr Doktor von Schwanstein, haben Sie ein Doppelleben und ziehen gelegentlich als Kabarettist durch die Häuser?“ Sie lächelte frech. „Dieser Mann hier, das könnten doch zweifellos Sie sein.“
„Könnte“, sagte Paul, „aber ich bin es nicht. Ich finde es nicht besonders originell, sich als verwirrter Charlie Chaplin zu präsentieren und Hetzsprüche von sich zu geben.“
Ein Kollege gesellte sich zu ihnen. „Dieser Kabarettist ist in England sehr beliebt, er tritt niemals ohne diese Verkleidung auf, sein Markenzeichen sozusagen. Er hat einige Auftritte in unserer Stadt, in dem kleinen Theater in der Schumannstraße, das sollten Sie sich unbedingt ansehen. Ich habe gestern eine Übertragung im Fernsehen gesehen. Eine Koryphäe, dieser Kai Bitterstone, ziemlich gewagt zwar, aber ich habe mich köstlich amüsiert, meine Frau weniger. Dies hier, scheint die Wiederholung von gestern zu sein.“
Diesem Kollegen war die Ähnlichkeit mit Paul nicht aufgefallen. Er war ein Jemand, der sich von Hut und Brille blenden ließ.
„Danke für die Information, aber ich interessiere mich nicht für Kabarett.“
„Das hätte ich mir denken können, genauso humorlos wie der Herr Papa? Na ja, der Apfel und sein Stamm, und so weiter.“
Paul lächelte mitleidig und drehte sich auf dem Absatz um. Dieser Zwischenfall hatte ihn nur kurz beschäftigt. Er hatte also einen Doppelgänger, es wäre doch interessant diesen kennenzulernen. Vielleicht war der Mann ein naher Verwandter, von dem er nichts wusste? Hatte er vielleicht sogar einen Bruder? War das seinem Vater zuzutrauen, eine heimliche Affäre mit Folgen? Paul hatte unbestreitbar äußere Ähnlichkeit mit seinem Vater, somit hatte sie dieser Fernsehclown auch. Er wollte unbedingt seinen Vater darauf ansprechen, doch dann wurde er von seiner Arbeit abgelenkt, es hatte Probleme bei der letzten Operation gegeben, er hatte danach ganz andere Dinge im Kopf. Direkt nach Dienstschluss hatte er eine Verabredung mit seiner Aisha gehabt, das war wichtiger gewesen als an einen Doppelgänger zu denken oder sich bei seinem Vater nach einen möglichen Bruder zu erkundigen. So vergaß er den Fernsehauftritt, zumindest für einige Zeit.
Dann kam die unglückliche Unterredung mit seinem Vater dazwischen, die Frage nach einem möglichen Bruder hätte dort keinen Platz gefunden. Auch der Tod des Vaters, der Beerdigungskram und die ihn fordernde Organisation der Hinterlassenschaft besetzten Pauls Gedanken und seinen Tagesablauf erheblich. Wollte er wirklich die Klinik übernehmen? Oder sollte er den ganzen Ramsch verkaufen und mit Aisha ein völlig neues Leben beginnen? Pauls Gedanken taumelten durch die ungewohnte Verantwortung.
Diese Fragen brauchte er sich sehr bald nicht mehr zu stellen, denn kurze Zeit nach der Beerdigung seines Vaters, hatte er auch Aisha verloren. Die Welt war eingestürzt.
Paul war vorerst nicht ansprechbar gewesen, er hatte um die Verschiebung der Testamentseröffnung gebeten. Als es dann zu diesem Termin kam, war er immer noch wie betäubt über den Verlust seiner Geliebten. Nun stand er ganz alleine da, er fand keine Richtung.
Pauls Mutter war vor mehr als fünfundzwanzig Jahren, unter ihn immer noch belastenden, tragischen Umständen ums Leben gekommen. Paul hatte keine Erinnerung an diesen Unfall. Er hatte keine Geschwister und dachte Alleinerbe zu sein. Ein Drittel dieses Erbes wäre immer noch mehr als genug gewesen, um im gehobenen Luxus, ohne finanzielle Einschränkung, bis ans Ende eines langen Lebens zu gelangen. Aber Luxus lag gar nicht in Pauls Sinn, zumindest kein übermäßiger. Natürliche Bescheidenheit, verbunden mit unauffälliger Exklusivität, hatten ihn ebenfalls von seinem Vater unterschieden.
So war es ihm also nicht wichtig, mit was oder mit wie viel sein Vater ihn bedacht hatte. Was der Verstorbene der Haushälterin, eventuellen Freunden oder Vereinen zugedacht hatte, war Paul gleichgültig, es würde für ihn immer genug übrigbleiben. Er hörte kaum auf die Worte des Notars, seine Gedanken waren bei der toten Aisha und nur bei ihr. Doch als der Notar seinen Namen verließ und angab, dass Paul die Hälfte aller Wertpapiere, des Barvermögens und der zahlreichen Immobilien zu erben hatte, wurde er wach. Er bat um Wiederholung des letzten Absatzes. Darin erfuhr er weiterhin, dass er zwar alleiniger Erbe des Elternhauses und der Besitzanteile der Klinik sei, ihm jedoch die zu erwartenden künftigen Schwanstein Gewinnanteile daraus, nur zur Hälfte zugesprochen wurden. Das war erstaunlich, wer sollte die andere Hälfte bekommen?
Paul vernahm, dass die verlorene Hälfte, nicht etwa einer heimlichen Liebsten seines Vaters zugesprochen wurde, sondern dessen Sohn, Kai Hauke von Schwanstein, seinem Bruder.
Paul war zunächst einmal sprachlos, er rührte sich nicht. Er hatte einen Bruder? Bei diesem Gedanken überfiel ihn ein leichtes Rieseln der Freude. Dieses Rieseln kroch langsam über ihn und versuchte sich einen Platz in dem großen Trümmerfeld der Trauer freizuschaufeln.
„Kai Hauke von Schwanstein, mein Bruder? Können Sie mir sein Alter nennen?“
Ein Missverständnis schien unwahrscheinlich. Kai war der Vorname seines Vaters, Hauke der des Vaters seiner Mutter, und Paul hatte den Namen seines Großvaters väterlicherseits.
„Ja, natürlich, das Alter“, sagte der Notar peinlich berührt, er hüstelte verlegen.
„Er ist Ihr Zwillingsbruder. Ihr Herr Vater hatte mich schon vor Jahren darüber aufgeklärt und um absolute Diskretion gebeten. Er hat auch ausdrücklich darauf bestanden, dass Sie zur Testamentseröffnung zuerst und allein anwesend sein sollten, das ist nicht üblich und hat erhebliche Schwierigkeiten gekostet. Aber er bestand darauf, damit Sie nicht, eventuell unerwünscht oder unangenehm unvorbereitet, mit diesem Bruder konfrontiert werden. Aus Rücksicht, um sich frei entscheiden zu können ob Sie ihn kennenlernen wollen oder nicht.“
Paul war gerührt, so taktvoll kannte er seinen Vater nicht. Gleich nach diesem kurzen Gerührt-Sein machte sich der Ärger breit. Ärger über diese Heimlichtuerei. Ein Bruder, okay, seinetwegen auch zwei oder drei, das hätte er ja noch verstanden und einordnen können in die Möglichkeiten, Früchte eines heimlichen Liebeslebens seines Erzeugers. Aber wieso ein Zwillingsbruder?
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