Paul ignorierte nur scheinbar das „Koran verseuchte Blut“. Doch diese Bemerkung war in ihn geprescht, er fühlte sich persönlich angegriffen und hatte ein unverhüllt empfundenes, nie gekanntes Kontra gegen den Vater mobilisiert. „Und du? Auf welcher Seite stehst du, Vater? Demnächst wirst du noch der PEGIDA Beifall klatschen. Du kannst doch wohl nicht leugnen, dass es sich hier um eine Massenhysterie handelt. Eine Verteuflung des Islam auf der Basis haarsträubender Unwissenheit. Den Islam und die Islamisten kann man doch nicht in einem Atemzug nennen.
Paul hatte den Ausdruck des Interviews, in dem man ihn um seine Meinung zu dem „Je suis Charlie“ gebeten hatte, vor sich liegen. Er überflog kurz den Text:
„Selbst ein politisch ungebildeter Mensch wie ich, ein normal Berieselter der Tagesschau, riecht, dass an diesem Braten etwas faul ist, dass hier etwas in die falsche, aber doch so erwünschte Richtung läuft. Eigentlich fühle ich mich nicht zu öffentlichen Stellungnahmen berufen, aber hierzu möchte ich mich doch äußern.
Die Masse scheint vor den Bauch gebundene Parolen mit hysterischen Slogans dringend zu benötigen. Ein jämmerlicher Versuch das Gefühl der Machtlosigkeit gegen den Terror zu übertünchen. Einer Machtlosigkeit, die mit einem über Nacht millionenfach gedruckten Slogan eine Gegenmacht formieren soll. Ein Aufruf zur Solidarität, genährt von der Furcht vor der angeblichen Unberechenbarkeit alles Fremden. Dazu die Sensationsgier einer bis in die Fingerspitzen manipulierten Gesellschaft und ihrer erwünschten Ablenkung von individuellem Leid. Eine aufgeheizte Empörung, die kollektive Geborgenheit vermittelt, geborgen im Kampf gegen den aufs Tablett gesprungenen Feind. Reaktion gegen die Furcht des Unkontrollierbaren? Eine uralte Geschichte. „Je suis Charlie“, ein Ablenkungsslogan. Die von wenigen Händen gebastelte Ablenkung einer Scheinsolidarität mit dem Schrei nach unantastbarer Pressefreiheit und angeblichem Schutz der Demokratie. Diese Reaktion drückt in keiner Weise Trauer für die Toten aus. Aus ihr klingt lediglich der Ruf nach Rache.“
An dieser Stelle des Interviews war Paul mit der Frage, wie man seiner Meinung nach den Slogan hätte gestalten sollen, unterbrochen worden.
„Das kleine und doch so mächtige Wort „suis“ ist aus dem Ruder gelaufen, es ist alles andere als eine Trauerbekenntnis. Um wirklich das offiziell dargestellte Mitempfinden auszudrücken, hätte es besser, „Ich trauere um Charlie“ oder ähnlich heißen sollen. Nun wurde ein Trauer- und Solidaritätsslogan zum „Ausländer raus“, zum „Nieder mit dem Islam“ oder im nicht allzu weitem Sinn ein „Heil Hitler“. Wo steckt hier das Bekenntnis zur Demokratie, zur Meinungs- oder Pressefreiheit, wo die Trauer um den gewaltsamen Tod der Journalisten? Dieser Solidaritätsslogan, der einigen Menschen im ersten Moment rührend erscheinen mochte, als ginge es um ein Tierschutzprogramm, wurde zum Schlachtruf gegen alles, was mit dem Islam zu tun hat.
Jede Parole kann missbräuchlich gedeutet werden. Birgt das in Zukunft die Gefahr, dass ein Schild um den Hals gehängt, mit dem Hinweis „Jesus lebt“, eine Rechtfertigung für einen fanatischen Islamisten wäre, um das Feuer zu eröffnen? Ein „Atomkraft nein danke“ oder „Make Love, Not War“, signalisiert gefährlichen Terror von Links? „Mein Bauch gehört mir“ eine Provokation für die Verfechter der Todesstrafe? Wir ersticken am Detail.
Der Mensch trachtet nach einem Feindbild, am liebsten einem für das Kollektiv geschaffene. Es dient der Vorspiegelung eigener Unfehlbarkeit und verschafft Zugehörigkeit, selbst wenn diese durch einen Schlachtruf manifestiert werden sollte. Somit scheint er weiterhin die Intelligenz eines Einzellers zu repräsentieren. Wie sonst kann man erklären, dass er sich so hartnäckig weigert die wahren Überlebensprobleme der Menschheit zu erkennen, um ihnen gemeinsam entgegenzutreten. „Je suis Charlie“, ein für unser Zeitalter völlig unpassender Aufruf, für mich nicht weniger besorgniserregend als Boko-Haram.“
Paul lächelte seinem Vater zu und gab ihm den Ausdruck zurück.
„Wir haben doch ganz andere Probleme, als zu Millionen für die Pressefreiheit auf die Straße zu gehen und sentimental für die sogenannte Demokratie in geordneten Reihen über den Asphalt zu marschieren. Was genau siehst du an meiner Meinung als so verwerflich an?“
„Schämst du dich nicht“, sagte sein Vater gebieterisch. „Du ziehst über die Menschen her, die sich mutig auf die Straße wagten, im Gedenken an die Opfer. Und besonders um der Bedrohung des Islam auf unsere geordnete Welt Paroli zu bieten. Einer Bedrohung, die danach trachtet unserer christlichen Gesellschaft ihre Regeln aufzuzwingen und uns mit Terror zu erpressen versucht. Fundamentalisten, Islamisten, Terroristen, was spielen diese Begriffe für eine Rolle, es sind gefährliche Menschen, die sich auf Gott berufen und in ihrer Gottlosigkeit nicht zu überbieten sind. Wir lassen Flüchtlinge in unser Europa, in unser Land und bieten Hilfe an, und sie werden zu Trojanischen Pferden. Ich bin gegen den Einlass von Flüchtlingen aus den Kampfgebieten der islamischen Staaten, damit eröffnen wir eine innerwestliche Front, das dürfte sogar dir klar sein. Wir holen uns den Krieg ins Haus, mit jedem Moslem, den wir aufnehmen. Toleranz darf hier nicht zur Selbstgefährdung unseres christlichen Zusammenlebens führen. Wir können solche Gefahrenpotenziale nicht in unseren Reihen dulden. Führende Vertreter aus Politik und Gesellschaft haben diesen Subjekten den Kampf angesagt, sie werden sich um ihre Vernichtung kümmern. Diese wichtigen, verantwortungsbewussten Menschen sind sich mit Millionen anderer Bürger einig, sie haben gemeinsam gebetet und eine Mahnwache gehalten. Das sind Menschen, die an unsere christlichen Werte glauben und dafür einstehen. Wir können doch nicht schweigend zusehen, wie der Islam uns bedroht und eines Tages überrollt.“
Paul sah seinen Vater mitleidig an. „Der Untergang des Abendlandes durch den Islam? Du irrst, der Islam ist keine Bedrohung, er ist es vielleicht in gleichem Maße, oder nicht, wie jede andere Religion auf der Welt auch. Falls du Al-Qaida meinst, ISIS oder Hisbollah, sie stehen im Schatten der nuklearen Abschreckung unserer Zeit. Es sind ein paar tausend Wirrköpfe, die sich heilige Krieger nennen und sich im Namen des Islam in den Kampf begeben haben. Eine Menge weniger Krieger, als die Kreuzritter zu ihrer Zeit im Namen des Christentums und eine Menge weniger Tote.“ Es trat eine kurze Stille ein. Sein Vater sah ihn fassungslos an.
„Paul, du kannst doch nicht ernsthaft das Mittelalter aus weiter Ferne heran zitieren und mit unserer hochzivilisierten Welt in einem Atemzug nennen. Allerdings kannst du die Mentalität des Islam sehr wohl mittelalterlich nennen, der Islam ist dort steckengeblieben, obwohl er sich der neuesten Technik unseres Zeitalters bedient, das hat sich als unheilvolle Mischung bestätigt.
„Hochzivilisiert? Und das Mittelalter unserer Gesellschaft in weiter Ferne? Eine verdammt kurze Distanz im Rahmen der Zeit, in welcher der Mensch sein Unwesen gegeneinander treibt, aber immerhin genug, um sich der Menschwerdung zu nähern. Was leider bisher nicht gelungen scheint. Gesetze und Auffassungen der Religionen haben sich seitdem kaum verändert, ein paar Modifikationen, aber im Grunde geht es immer noch hauptsächlich um Abwehr und Macht, um Unterwerfung oder Töten. Für jede Religion wird getötet. Wird es je eine Zivilisation geben? Ein einheitliches Gesetz nach dem sich die gesamte Menschheit richtet, ihren individuellen Glauben hinten anzustellen weiß, um sich dem gemeinsamen Überleben zu widmen? Vielleicht kannst du mir ja erklären, wo das von dir so gepriesene Christentum und die Zivilisation sich versteckt hält, wenn bei Militäreinsätzen, wissentlich voll besetzte Hospitäler bombardiert, dem Erdboden gleich gemacht werden. Wenn Kranke, Verletzte, Kinder, Personal und Ärzte sterben, weil sich möglicherweise eine Handvoll sogenannter Terroristen in dem Gebäude aufhält?
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