Stefan fuhr fort. „Die Leute sollen schließlich zumindest wissen, neben wem sie so leben und wer bei dem Supermarkt einkauft, bei dem auch sie immer einkaufen gehen. Naja, ich war wie gesagt nicht bis zum Schluss da; als ich ging, war alles noch recht friedlich. Ab und zu wurden wir ein bisschen angepöpelt, aber das kennt man ja.“
„Aber später ist dann richtig was passiert, oder wie?“, fragte Sybille.
„Naja, der Nazi und ein paar seiner Kumpel sind wohl aufgetaucht, so richtig mit Stiefeln und dem ganzen Drum und Dran. Es gab wohl keine richtige Prügelei, eher so ein Wortgefecht. Einer von den Nazis hat Frauke die Flyer aus der Hand gerissen, Schuffe ist beinahe auf ihn los – aber Steini ist wohl dazwischen, zusammen mit noch anderen. Das ging dann ne Weile so hin und her, die Nazis wohl immer bedrohlicher, Schuffe kurz vor der Explosion – da ist es den anderen zu gefährlich geworden und sie sind abgezogen. Die Nazis aber hinterher. Mit Abstand, aber immer hinterher, und weiter gedroht und gelacht und so, wohl richtig bedrohlich. Sie haben sich dann in Gruppen aufgeteilt, weil sie dachten, so werden sie die Nazis los. Aber die sind halt immer hinter der kleinen Gruppe mit Steini hinterher, bis zum Wohnheim. Steini und die anderen sind auf Steinis Zimmer hoch. Die Nazis haben da wohl noch 'ne Weile rumgelungert und sind dann wohl irgendwann abgezogen. Die anderen sind schnellstens abgehauen, weil sie Angst hatten, dass die nur Verstärkung holen – und Steini war ja drinnen, alle dachten, dem kann nix passieren.“
Stefan zuckte die Schultern.
Sybille schaute ihn erwartungsvoll an, aber er schwieg.
„Und dann? Sind die Nazis wiedergekommen, oder wie?“
Stefan zuckte wieder die Schultern. „Offenbar ja.“
Sybille versuchte wieder, ihn aufmunternd anzuschauen. Nach einer kurzen, aber unangenehmen Pause seufzte er schließlich, sah sich um, beugte sich näher zu Sybille und fuhr mit gesenkter Stimme fort. „Irgendein Student hat ihn gefunden und bei der Polizei angerufen. Er ist wohl erstickt worden, oder so ähnlich zumindest. Aber –“ Stefan zögerte, sah sich wieder um und dann Sybille ernst an. „Wir haben heute morgen beschlossen, erstmal nichts weiter zu erzählen. Ich – ich hätte dir gar nicht so viel erzählen sollen.“
„Wieso das denn?“
„Jetzt nimm's bitte nicht persönlich, jemand anderem hätte ich gar nicht so viel gesagt. Aber – naja, wie sagt man: Die Ermittlungen laufen. Und wir müssen ein bisschen aufpassen, wie das so läuft und was wir, ähm, sagen, naja....“
Stefan war rot geworden.
„Schon ok,“ sagte Sybille. „Ich muss jetzt eh los, ich bin verabredet zum Essen.“
Das hatte sich nun doch beleidigter angehört, als sie gewollt hatte. Stefan sah sie betreten an.
Schnell fügte sie hinzu: „Ist echt ok. Ich werd' auch keinem sagen, dass du mir was gesagt hast. Bis später, ja?“
Stefan sah etwas erleichtert aus und er verabschiedete sich, indem er mit den Handzetteln winkte. Die Geste wirkte so hilflos und vor dem riesigen Steini-Poster so fehl am Platz, dass Sybille sich schnell zur Mensa umdrehte. Sie winkte noch zurück, dachte aber gleichzeitig darüber nach, ob sie es seltsam finden sollte, dass der AStA sich selbst ein Redeverbot gab. Zumindest hatte es ja offenbar die Anordnung gegeben, nicht zu viel nach außen zu geben. Sie konnte sich schon lebhaft vorstellen, was Tobias dazu sagen würde. Aber wahrscheinlich war es sogar wirklich ganz klug, nicht zu viel von den Geschehnissen an bisher Unbeteiligte weiterzugeben. Damit handelte der AStA wohl nicht nur im eigenen Interesse, sondern womöglich auch – unwillkürlich und sozusagen zufällig – auch im Sinne der Polizei.
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Obwohl einige Studenten offenbar zur Mahnwache unterwegs waren, wirkte der Campus um kurz vor sechs wie ausgestorben. Vor der Mensa stand immer noch der Infostand vom Mittag, der jetzt von Studenten umringt wurde, die sich leise unterhielten. Sybille erspähte Stefan in einer Gruppe von AStA-Mitgliedern, der ihr zuwinkte und zu ihr herüber kam.
„Da bist du ja! Kommst du allein?“
„Ja, die anderen hatten alle keine Zeit.“
Sybille blickte zum Infostand. Frauke und Schuffe beugten sich mit einem großen Dunkelhaarigen über einige Seiten Papier. Stefan folgte ihrem Blick. „Jan und Frauke haben ein paar Texte rausgesucht, die gleich vorgelesen werden.“
„Genau, Jan – ich wusste doch, dass ich den kenne. Der ist im Vorstand, oder?“
„Ja, er ist sogar der Vorstandsvorsitzende. Dort drüben steht der Rest vom Vorstand. Und das,“ er nickte in Richtung eines blassen, kleinen Blonden, „ist Kopps, also Frank Kopps, der übriggebliebene Finanzreferent.“
Sybille zog die Augenbrauen hoch. „Ach, Steini war im Finanzreferat? Das wusste ich gar nicht.“
Stefan schaute sie verwundert an, kam aber nicht mehr dazu, etwas zu erwidern. Jan hatte sich aufgerichtet und schaute erst in die Runde, dann auf seine Uhr. Unwillkürlich folgte Sybille seinem Beispiel. Es war viertel nach sechs. Jan nickte den anderen zu und stellte sich dann vor den Infostand.
„Liebe Kommilitonen,“ begann er mit lauter, vortragsgewöhnter Stimme. „Vielen Dank, dass ihr alle gekommen seid.“
Sybille blickte sich um. Etwa 150 Leute hatten sich inzwischen auf dem Mensavorplatz versammelt.
„Wir kommen hier heute Abend zusammen, um unseres Kommilitonen Steingart Bröcker zu gedenken, den wir alle als 'Steini' gekannt und geschätzt haben. Am Samstag Abend wurde er heimtückisch ermordet – von Neonazis, wie inzwischen auch die Polizei eingesehen hat.“
Ein Raunen erhob sich, das Jan mit erhobenen Händen zum Ersterben brachte.
„Die Polizei hat heute Kai Peters festgenommen – der kein anderer ist als der Neonazi, vor dessen Haus Steini noch am Samstag mit uns anderen demonstriert hat.“
Das Raunen erhob sich wieder. Sybille dachte daran, was Tobias dazu sagen würde, dass es tatsächlich ein Neonazi gewesen war.
Stefan murmelte ihr zu: „Jan hat es mir vorhin schon erzählt. Gut, dass sie ihn schon haben. Hätte nicht gedacht, dass sie so schnell auf uns hören.“
Er sah triumphierend aus und auch auf Jans Gesicht spiegelte sich Genugtuung. Sybille fand es merkwürdig, dass der AStA den vollen Namen des Tatverdächtigen nannte, dann fiel ihr wieder der Artikel in der Campus-Zeitschrift der letzten Woche ein. Unbehagen machte sich in ihr breit.
Dieses Mal wartete Jan, bis sich die Zuhörer von selbst wieder beruhigt hatten, bevor er wieder das Wort ergriff.
„Bei aller Freude darüber, dass die Polizei den Täter gefunden hat, ist dies natürlich ein Tag der Trauer. Steini war ein von uns allen geschätzter hervorragender Student und Kollege, der für die gute Sache eintrat und doch immer einen kühlen Kopf bewahrte. Heute Abend möchten wir zu seinem Gedenken einige Texte lesen und später in einem Lichtermarsch gemeinsam zum Studentenwohnheim laufen, um dort einige Kerzen aufzustellen.“
Sybille stöhnte leise. Ganz sicher würde sie nicht den ganzen Weg zum Studentenwohnheim zurücklegen, zumal es schon ohne diesen „Marsch“ ein langer Abend zu werden drohte. Es schien ihr, als würde auch ein guter Teil der anderen Anwesenden bei Jans Ankündigung unruhig.
„Zunächst aber,“ fuhr Jan ungerührt fort, „wollen wir eine Schweigeminute einlegen für unseren ermordeten Kommilitonen und Freund, 'Steini' Steingart Bröcker.“
Die Anwesenden senkten die Köpfe. Nur entfernter Verkehrslärm und ein paar Vögel waren nun zu hören. Sybilles Nase fing an zu jucken und sie versuchte krampfhaft, nicht auf die Uhr zu sehen. Verstohlen linste sie zu Stefan hinüber, der die Augen geschlossen hatte. Sie versuchte, sich ebenfalls zu sammeln und sich an etwas Nettes über Steini zu erinnern. Doch vor ihrem inneren Auge erschienen nur seine langatmigen Reden bei Vollversammlungen und sein gockelhaftes, wichtigtuerisches Auftreten bei den Ersti-Einführungen des AStAs. Sie fühlte sich schlecht. Immerhin, sagte sie sich, war er für seine Überzeugungen eingetreten und hatte sich in der Unipolitik engagiert. Das war doch was!
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