„Sobald ihr aus der Stadt heraus seid, wird die Hetzjagd eröffnet“, schrie ihnen einer der Waffenknechte triumphierend hinterher. „Und wenn ihr nicht sofort losgeht, erschlagen wir euch gleich“, setzte er leiser hinzu.
Falk nahm die Hand Krystinas mit festem Griff und begann zu rennen, die junge Frau hinter sich herzerrend. Sie stolperte über ihre Röcke, doch konnte er keine Rücksicht darauf nehmen. Sie mussten zusehen, dass sie Land gewannen, denn die Büttel des Gaugrafen würden sicher auch schon vor der Stadt auf sie lauern. Noch wusste er nicht genau, wie sie aus der Stadt gelangen konnten, ohne draußen vorm Tor sofort niedergemacht zu werden. Sie rannten über eine schmale Brücke, die den Stadtkern mit den Häusern der wohlhabenderen Bürger mit dem Stadtteil verband, in dem vorwiegend Handwerker und Häusler angesiedelt waren. Hier drängten sich niedrige, oft windschiefe Holzhäuser, meist eher Hütten gleichend, dicht an dicht, getrennt durch unzählige kleine, dunkle Gassen, in die sicher niemand genauer schauen würde, der nicht unbedingt dazu gezwungen war.
„Da hinein!“ Falk drängte Krystina in den engen Spalt zwischen zwei Häusern, deren Dächer sich über die Wände beängstigend nach vorn wölbten und so eine Art Tunnel zwischen den Gebäuden bildeten. Am Ende der Gasse stießen sie auf ein Tor. Doch als sie sich dagegenlehnten, gab es zu Falks Verzweiflung nicht nach.
„Verdammt“, fluchte er leise. „Ich hätte schwören können, dass es hier zum Stadtgraben geht. Mit diesem blöden Tor habe ich nicht gerechnet.“
„Und was ist, wenn wir den Graben erreicht haben? Ich kann nicht schwimmen“, sagte Krystina mit ängstlicher Stimme. „Außerdem scheinen wir hier sowieso nicht weiterzukommen“, fuhr sie resigniert fort.
„Wir müssen zurück. Es bleibt uns nichts weiter übrig.“ Falk zuckte bedauernd mit den Schultern. Da öffnete sich wie von Geisterhand neben ihnen eine kleine Tür, die sie in dem verwitterten Holz des alten Hauses gar nicht bemerkt hatten. Eine hier im Dunkeln der Gasse nur schattenhaft auszumachende Gestalt winkte ihnen und raunte ihnen zu, hereinzukommen. Falk zögerte, denn was, wenn diese Person ihnen eine Falle stellen wollte? Da hörte er von Ferne das Geschrei der Waffenknechte des Gaugrafen vermischt mit Hufgetrappel, das ihm zeigte, dass Miro von Louny bereits Jagd nach ihnen machte.
„Kommt“, sagte er und zog Krystina mit sich. Kaum waren sie eingetreten, schloss sich die Tür nach ihnen wieder und es umgab sie vollkommene Finsternis.
„Keine Angst“, flüsterte jemand hinter ihnen. „Ich will nur sichergehen, dass die Tür richtig verschlossen ist, bevor ich Licht mache, damit auch ja kein Schein nach draußen dringt.“
Nach wenigen Augenblicken drängte sich die Gestalt in dem engen Gang an ihnen vorbei. Plötzlich wurde es heller, denn ihr Retter hatte eine weitere kleine Tür geöffnet, die in einen Garten hinter dem Haus führte.
„Hier entlang“, flüsterte er, und nun sahen sie, dass es sich um einen jungen Burschen handelte, der kaum dem Kindesalter entwachsen war.
„Wer bist du?“, fragte Falk. „Und wieso verhilfst du uns zur Flucht?“ Falk sah ihn verständnislos an. „Ist es eine Falle, in die wir gelaufen sind? Wirst du uns dem Gaugrafen ausliefern? Dann sei gewiss, dass ich unser Leben so teuer wie möglich verkaufen werde.“ Falk sah den jungen Kerl finster an.
„Nein, nein, Herr, keine Bange“, beschwichtigte der Junge den Ritter. „Ich war heute auf dem Marktplatz und habe miterlebt, wie Eure junge Frau um Euer Leben gebettelt hat. Nun ist es aber so, dass ich weiß, wer sie ist.“ Falk hörte Krystina hinter sich entsetzt aufkeuchen.
„Keine Sorge, ich habe meine Gründe, Euch zu helfen. Ich werde Euch nicht verraten. Euch, Herr Ritter, kenne ich nur vom Hörensagen. Und glaubt mir, das wäre mir Grund genug gewesen, nichts für Eure Rettung zu tun. Aber die Frau kenne ich wohl.“
Nun war Krystina neugierig geworden und sie lugte hinter dem Rücken Falks hervor, um den jungen Mann genauer in Augenschein zu nehmen. Sie kannte ihn, ohne Zweifel. Dennoch wusste sie nicht, wo sie ihn hinstecken sollte, so sehr sie auch ihr Gedächtnis durchforstete.
Der Bursche schaute Krystina an. „Ich bin Andris, Herrin. Ihr habt einmal meiner Mutter geholfen, als man sie beschuldigte, dass sie die Kuh des Bauern Karel verhext hätte. Ihr habt damals bezeugt, dass die Kuh weniger Milch gibt, da sie ein Kälbchen säugen musste.“
Jetzt konnte sich Krystina wieder erinnern. Sie hatte damals den Jungen in einer Ecke des Saales sitzend gefunden, wie er bitterlich weinte. Auf ihre Frage, was ihm zugestoßen sei, erzählte er ihr von der Anschuldigung des Bauern Karel, seine Mutter hätte die beste Kuh in dessen Stall verhext. Krystina tat der Junge leid, und sie erkundigte sich nach dieser Sache. Auch glaubte sie nicht an solche Dinge wie Zauberei und Hexenflüche. Doch die Mutter des Jungen war eine hübsche Frau, die mit Sicherheit nur die Begehrlichkeit des Bauern, der seit einem Jahr Witwer war, geweckt hatte. Sie weigerte sich, sein Weib zu werden, denn der Kerl war als gewalttätig und ungerecht bekannt. Krystinas Onkel, der selbst ein Auge auf seine Magd geworfen hatte, erteilte Karel eine Abfuhr und beschied ihm, sich woanders ein neues Weib zu suchen. Der Bauer rächte sich und erfand die Geschichte von der verhexten Kuh. Doch Krystina kam ihm auf die Schliche und berichtete ihrem Onkel davon. Dieser ahnte bereits, dass der Bauer gelogen hatte, um der Frau eines auszuwischen und jagte ihn aus dem Dorf, nicht ohne vorher dessen Besitz seinem eigenen hinzugefügt zu haben. Doch seit diesem Vorfall war der Junge ihr glühendster Verehrer geworden.
„Wieso bist du hier, Andris?“, frage Krystina verwundert.
„Ich war gerade in der Stadt, um einen Auftrag für die Köchin zu erledigen, welche frische Rüben vom Markt brauchte. Da sah ich den Tumult auf dem Richtplatz.“ Er warf Falk einen abschätzenden Blick zu. „Ich wurde neugierig und drängte mich durch die johlenden Massen, wollte ich doch sehen, was da vor sich ging.“ Andris hob die Hände und vollführte eine Geste des Unglaubens. „Was ich sah, ließ mir das Blut in den Adern gefrieren, Herrin. Ihr standet da und flehtet um das Leben dieses Mannes hier. Das konnte nicht gut ausgehen. Miro von Louny ist als kaltherzig und unnachgiebig bekannt.“
„Wie du siehst, ist es gut ausgegangen“, warf Falk dazwischen. „Wir sind jetzt verheiratet.“ Er verzog etwas das Gesicht, was dem Jungen nicht entging.
„So würde ich das nicht sagen, Herr“, konterte Andris respektlos. „Krystina von Hauenstejn ist jetzt die Frau eines gesetzlosen Ritters und auf der Flucht vor den Häschern des Gaugrafen, die sicher nicht lange fackeln, wenn es darum geht, sie gemeinsam mit Euch zu fangen. Und der Himmel allein weiß, ob ihr dann nicht noch Schlimmeres widerfährt als der Tod.“ Andris schaute den Ritter herausfordernd an.
„Du bist ganz schön vorlaut für den Sohn einer Magd“, bemerkte Falk erstaunt.
„Falk, bitte, seid ihm nicht böse. Er ist ein guter Junge und sorgt sich sicher nur um mich“, versuchte Krystina zwischen den beiden zu vermitteln. „Nein, Andris, ich meinte, wieso bist du hier in Louny. Ich wähnte dich auf Hauenstejn.“
„Das ist eine eher traurige Geschichte, Herrin. Die werde ich euch wohl ein anderes Mal erzählen müssen. Nur soviel, der Herr von Hauenstejn hat meine Mutter und mich an den Gaugrafen verkauft, als er ihrer überdrüssig wurde.“ Ein wehmütiger Ausdruck huschte über sein Gesicht. „Doch wie Ihr seht, hat alles seine Richtigkeit, sonst könnte ich Euch heute nicht helfen“, fuhr er voller Zuversicht fort.
Obwohl Krystina noch viele Fragen auf der Zunge lagen, beherrschte sie sich und fragte stattdessen: „Und was machst du hier in diesem Haus?“
Читать дальше