In Erlendorf wäre so etwas nicht passiert. Da hatte sie und die Kinder dutzende Freunde. Sie trafen sich fast jede Woche zu Kaffee und Kuchen, machten Unternehmungen, Ausflüge, zur Gokart-Bahn in Erlendorf, in den Heide-Park oder in den Zoo. Es war eine Zeit, die ihr immer in Erinnerung blieb und die ihr die Tränen in die Augen trieb, wenn sie daran dachte. Wenn sie die Zeit zurückdrehen könnte, dann würde sie alles wieder gutmachen, Maximilian zu einer Alkoholentwöhnung zwingen, um unter allen Umständen in Erlendorf zu bleiben.
Nun aber fristete sie ein Dasein zwischen Problemen, die, wie sie selber sagte, auch ihre Schuld waren. Sie hatte zu sehr auf ihre Gefühle geachtet, war zum impulsiv gewesen und hatte Maximilian verlassen. Vielleicht gab es sogar noch eine Chance und sie hatte sie einfach nur nicht erkannt. Wenn es so war, dann würde sie sich ein Leben lang Vorwürfe machen, vor allem wegen Peter und Jochen. Irgendetwas in ihr, eine Art Gefühl, verbot ihr auch eine neue Partnerschaft anzufangen. Dafür liebten die Kinder ihren Vater viel zu sehr und sie musste zugeben, dass sie Maximilian auch noch in ihrem Herzen hatte. Es brauchte Zeit, das alles zu verarbeiten und sacken zu lassen. Sie durfte sich nicht zu sehr von ihren Gefühlen leiten lassen, denn sie halfen einem häufig nicht im wahren Leben. Sie hatten die Kraft das zu zerstören, was man sich jahrelang aufgebaut hatte. Um zu überleben, musste man als abgeklärter Mensch auf so manche Gefühlsregung verzichten, damit das Gleichgewicht eines Systems aus Abläufen, wie eine Ehe, aufrecht erhalten blieb. Sie aber war nicht abgeklärt, sondern steckte voller Emotionen.
››Wir sind gleich da, Mama‹‹, sagte Peter.
››Ja, dann steht schon mal auf.‹‹
Waltraud erhob sich und lief mit den Kindern zur Tür. Der Bus hielt an und sie stiegen aus. Von hier aus war es nicht mehr weit bis zur Wache. Sie sah sie schon, etwa hundert Meter weiter.
››Ich habe immer noch Angst‹‹, sagte Jochen, ››die Kinder werden das nicht mögen.‹‹
››Na und. Sie sollen ruhig kommen, dann werden sie es nie wieder machen.‹‹
Peter und Jochen schwiegen. Waltraud war klar, dass sie schon wieder ihren Gefühlen freien Lauf ließ und das vor den Kindern. Sie musste sich auf jeden Fall in der Wache beherrschen, damit die Polizisten sie nicht gleich als hysterische Mutter abstempelten, die eine harmlose Prügelei mit ihren Kindern durch andere Kinder überzogen darstellte. Einfach nur beherrschen, dann war auf der sachlichen Ebene alles klar. Aber die Gefühle der menschlichen Ebene in ihr brodelten wie ein Vulkan, der kurz vor dem Ausbruch stand.
››Ihr redet nur, wenn die Polizisten euch etwas fragen, klar?‹‹
››Ja‹‹, sagte Jochen.
››Okay‹‹, sagte Peter.
Waltraud öffnete die große alte Holztür der Wache und trat ein. Sie ging zum Empfang und klopfte auf den Tisch. Der Polizist, der hinter dem Empfang saß, sah nach oben.
››Bitte, die Dame.‹‹
››Ich möchte eine Anzeige erstatten, wegen Körperverletzung. Eines meiner Kinder wurde übelst verprügelt.‹‹
››Nehmen sie dort im Wartebereich Platz. Ein Kollege wird sie gleich in sein Büro rufen.‹‹
››Alles klar.‹‹
Waltraud nahm Peter und Jochen an die Hand und ging ein paar Schritte weiter, bis sie den großen Wartebereich mit den modernen Stühlen erreichte, die an der Wand festgeschraubt waren. Gott sein Dank war es leer und sie hatten ihre Ruhe. Sie setzten sich. Im hinteren Bereich ging eine Tür auf und ein breiter Polizist in Uniform, mit dunkelblonden Haaren und einem langen braunen Bart kam auf Waltraud und die Kinder zu.
››Kommen sie mit.‹‹
Sie standen auf und folgten dem Polizisten in das Büro. Es war sehr klein und hinter dem Schreibtisch sah man den Hinterhof, in dem ein großer Baum stand. Er spendete Schatten und sorgte dafür, dass es nicht ganz so heiß war. Der Polizist räusperte sich:
››Werte Dame, mein Name ist Wolfgang Groß. Ich werde mit ihnen alles klären. Dürfte ich ihren Ausweis und die Kinderausweise sehen?‹‹
››Aber natürlich.‹‹
Waltraud kramte in ihrer schwarzen Ledertasche und holte sie hervor. Sie gab sie Herrn Groß, der währenddessen schon ein paar Blätter und Formulare ausfüllte.
››Sie sind Waltraud Junker, fünfundvierzig Jahre alt, geboren in Buxtehude?‹‹
››Ja.‹‹
››Und ihre Kinder sind Peter Junker und Jochen Junker, sieben und acht Jahre alt, geboren in Erlendorf?‹‹
››Auch das ist richtig.‹‹
››Und sie wollen eine Anzeige stellen?‹‹
››Ja.‹‹
››Dann legen sie los.‹‹
Waltraud beruhigte sich, atmete tief durch und zeigte auf Peter und Jochen.
››Meine Kinder wurden verprügelt. Ich möchte gegen die Täter, die ebenfalls Kinder waren, eine Anzeige wegen Körperverletzung stellen.‹‹
››Kennen sie die Kinder?‹‹
Waltraud sah Peter und Jochen an.
››Kennt ihr sie?‹‹
››Ja sie gehen bei uns auf die Schule‹‹, sagte Peter.
››Welche Schule‹‹, fragte Herr Groß.
››Die Hundertwasser-Gesamtschule‹‹, antwortete Jochen.
››Schon wieder, da passiert so etwas öfters. Wie sahen denn die Kinder aus und kennt ihr sie vielleicht?‹‹
››Sie kommen aus Italien, jedenfalls sprechen sie so‹‹, antwortete Peter, ››alle haben schwarze Haare und tragen immer schöne Klamotten.‹‹
››Das hört sich an wie die Graciello-Familie.‹‹
››Ich glaube so heißen sie auch‹‹, sagte Peter, ››wir haben an der Schule zwölf Jungen, die diesen Nachnamen haben.‹‹
››Das werden sie sein. Und die haben euch verprügelt?‹‹
››Ja‹‹, antwortete Peter, ››sehen sie mich an, Herr Groß. Sie können uns nicht ausstehen, weil wir vom Dorf kommen und nicht so cool sind wie sie. Sie haben auch gesagt, dass wenn wir eine Anzeige stellen, es noch schlimmer wird und sie uns dann weiter verprügeln werden.‹‹
››Eine Anzeige zu stellen ist der richtige Weg‹‹, sagte Herr Groß, ››wir werden die Anzeige aufnehmen und sie auch so schnell wie möglich bearbeiten. Gehe vielleicht nochmal mit deiner Mutter zum Kinderarzt, wenn es mit deinem Gesicht nicht besser wird. Ihr seht ja ganz schön schlimm aus.‹‹
››Machen wir das, Mama‹‹, fragte Peter.
››Aber natürlich mein Schatz‹‹, antwortete Waltraud und streifte Peter durchs Haar.
››Ich muss sie aber nochmal alleine sprechen, Frau Junker. Eine Kollegin wird sich gleich um die Kinder kümmern.‹‹
Herr Groß rief über das Telefon seine Kollegin an und Waltraud begann nervös zu werden, da sie nicht wusste, was Herr Groß von ihr wollte. Sie zeigte es nicht, da sie Peter und Jochen nicht noch mehr verängstigen wollte.
Es klopfte an der Tür und eine große schwarzhaarige Polizistin in Uniform ging auf Peter und Jochen zu.
››Frau Herold, könnten sie sich kurz um die beiden Jungs kümmern.‹‹
››Na klar, kommt mit.‹‹
Sie verließ den Raum mit den beiden und Herr Groß sah Waltraud mit besorgtem Blick an.
››Frau Junker, es geht um die Graciello-Familie.‹‹
››Was ist mit ihr?‹‹
››Ich sage mal ganz vorsichtig, dass mit ihnen nicht zu spaßen ist, noch nicht mal mit ihren Kindern. Wir vermuten, dass sie zur Mafia gehören und sehr viel Dreck am Stecken haben. Leider können wir es ihnen nicht nachweisen, aber vermutlich würde man ihnen auch unzählige Morde anlasten können. Bisher haben wir sie nur wegen ihrer Kinder bestrafen können, die durch Gewalttaten aufgefallen sind. Sie sind nicht die einzige Mutter, die schon hier her gekommen ist.‹‹
››Dann müssen sie etwas tun. Es kann doch nicht sein, dass sie einfach alle terrorisieren können, schon gar nicht kleine Kinder.‹‹
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