››Um Gottes Willen, was ist passiert Peter?‹‹
››Ich wurde verprügelt von zwei Kindern, Jochen auch.‹‹
Waltraud nahm ihn besorgt in den Arm.
››Dann müssen wir eine Anzeige stellen und dich von dieser scheiß Schule nehmen.‹‹
››Sie haben aber gesagt, dass wenn wir etwas erzählen, sie uns nochmal verprügeln‹‹, sagte Peter.
››Das stimmt Mama, wir haben jetzt furchtbare Angst‹‹, sagte Jochen zu ihr.
››Das sollen sie mal versuchen‹‹, fluchte Waltraud, ››meine Kinder verprügelt niemand. Kommt rein, ich werde euch verarzten, wenn es nicht besser wird, müssen wir Montag zum Arzt.‹‹
Sie gingen in die Wohnung. Waltraud schloss die Tür und lief zur Abstellkammer neben dem Bad und holte Verbands-Zeug und Desinfektionsmittel heraus.
››Peter, gehe schon mal in dein Zimmer, ich komme gleich.‹‹
››Darf ich mit zusehen‹‹, fragte Jochen.
››Ich habe auch noch ein paar Fragen an euch, also ja.‹‹
››Ich gehe schon mal zu Peter.‹‹
Waltraud nahm die Sachen und lief in Peters Zimmer. Er saß schon auf dem Bett. Trotz des bunten Zimmers, das mit Postern von Actionfiguren verziert war und das nur so von Spielzeug wimmelte, war Peter genau der Gegensatz an diesem Tag. Er sah vollkommen fertig aus und sein Gesicht war übel zugerichtet. Er war erst sieben Jahre alt, doch hatte heute schon seine erste schlechte Erfahrung mit Gewalt gehabt. Er hatte Angst, das spürte er, furchtbare Angst.
››So dann lass mal sehen‹‹, sagte Waltraud und fuhr mit Einweghandschuhen über seine Wunden, ››aber deine Nase tut nicht weh, oder?‹‹
››Nein.‹‹
››Aber dein Gesicht sieht furchtbar aus. Was haben die nur mit dir gemacht?‹‹
››Sie mögen uns nicht Mama‹‹, sagte Jochen, ››wir sind vom Dorf, nicht so cool wie sie und Weicheier.‹‹
››Glaubt den Quatsch nicht, ihr seid zwei einzigartige Kinder, und wenn ich die erwische, dann können sie was erleben.‹‹
Waltraud nahm das Desinfektionsmittel in die Hand.
››Das könnte jetzt brennen.‹‹
Peter schrie auf und fing an zu weinen.
››Ich vermisse Papa so und in Erlendorf hätten sie uns nie geschlagen. Ich vermisse Papa und meine alten Freunde. Können wir nicht wieder zu Papa zurück.‹‹
››Ich weiß, wie sehr ihr es euch wünscht. Aber es geht nicht. Ihr wisst doch, dass Papa wahrscheinlich immer noch so viel trinkt. Und das geht nicht. Er hat unser ganzes Geld ausgegeben.‹‹
››Aber er tut doch niemanden etwas‹‹, sagte Jochen, ››lass ihn doch trinken, Mama. Ich würde alles geben, um wieder in Erlendorf wohnen zu können. Hier sind die Kinder so böse.‹‹
››Ich will sofort zurück, Mama‹‹, sagte Peter.
››Ich habe euch sehr lieb, das wisst ihr. Und ich werde auch heute noch in der Schule anrufen, oder auf den Anrufbeantworter sprechen und ein Gespräch mit diesen Kindern verlangen. Aber zurück zu Papa können wir nicht, nie mehr.‹‹
››Aber du vermisst ihn doch auch, Mama‹‹, sagte Peter.
››Ich vermisse ihn, aber er ist nicht mehr der, den ich damals kennengelernt habe. Er hat sich verändert. Erst wenn er nachweisen kann, dass er nicht mehr trinkt, dann können wir es uns überlegen.‹‹
››Vielleicht trinkt er gar nicht mehr‹‹, sagte Jochen.
››Oh doch, sonst hätte er sich schon gemeldet. Wir sind ihm egal, Peter und Jochen, das müsst ihr verstehen. Der Alkohol ist ihm wichtiger als wir. Vielleicht arbeitet er schon gar nicht mehr und hat das Haus schon verkauft.‹‹
››Ohne Papa werde ich aber nie mehr glücklich werden‹‹, sagte Peter.
››Das wirst du, gib nicht auf. Wenn das Gespräch nichts bringt, dann werde ich euch von dieser Schule nehmen und dann geht ihr auf eine Privatschule. Diese Kinder haben euch nicht verdient. Niemand schlägt meine Kinder.‹‹
››Dann schlag sie doch selber Mama‹‹, schimpfte Jochen.
Waltraud war erstaunt, dass Jochen solch einen Ton benutzte, aber am liebsten hätte sie es getan. In ihr stieg die Wut hoch und sie war wirklich kurz davor, die Kinder aufzusuchen. Aber sie musste sich beherrschen und die richtigen Worte für beide finden. Es reichte ja schon, dass beide so redeten.
››Ich werde das schon regeln und ja, eine Strafe für beide wäre nicht schlecht. Sie hätten es verdient.‹‹
Waltraud verarztete Peter und verband seine Wunden. Sie nahm sich vor, am Montag alles zu klären und dafür zu sorgen, dass so etwas nie wieder geschah. Peter war so entstellt und auf jeden Fall musste die Familie der Kinder eine Anzeige bekommen. Sie wollte es eigentlich vermeiden, denn so brachte sie ein weiteres Kind auf die kriminelle Bahn, doch eine Anzeige musste sein! Vielleicht würde sie heute noch zur Polizei gehen, ja das würde sie! Die Polizisten mussten die Kinder in dem Zustand sehen, sehen, was für ein Leid ihnen angetan wurde.
››Zieht euch an, wir gehen zur Polizei‹‹, sagte Waltraud.
››Du willst sie wirklich anzeigen, dann werden sie uns erst richtig fertig machen, Mama.‹‹
››Wie schon gesagt, das sollen sie versuchen.‹‹
››Ich habe Angst‹‹, sagte Peter.
››Ich bin bei euch, und nun zieht euch an.‹‹
Peter und Jochen liefen in den Flur und zogen ihre Schuhe an. Beide waren blass im Gesicht und sahen so aus, als ob sie nicht aus dem Haus wollten.
››Wir können keine Anzeige machen‹‹, sagte Jochen, ››wenn du eine Anzeige machst, dann werden sie uns auflauern und uns schlagen, auch dich Mama.‹‹
››Die kleinen Knirpse‹‹, fragte Waltraud.
››Sie holen ihre großen Brüder und werden uns alle grün und blau hauen‹‹, sagte Jochen.
››Das haben sie gesagt‹‹, fragte Waltraud mit tiefer Wut in der Stimme.
››Ja und ich glaube nicht, dass wir eine Chance gegen sie haben‹‹, antwortete Jochen, ››sie sagen das nicht nur so Mama, sie werden Ernst machen.‹‹
››Ich will nicht, dass du verletzt wirst, Mama‹‹, sagte Peter, ››du siehst ja, was sie mit mir gemacht haben.‹‹
››Ich werde euch beschützen und jetzt kommt‹‹, sagte Waltraud entschlossen und die drei liefen die Treppen herunter, verließen das Haus und steuerten die Bushaltestelle an. Waltraud hoffte, dass sie den Kindern nochmal über den Weg lief, aber sie ahnte, dass sie sich vielleicht nicht beherrschen konnte und am Ende selber eine Anzeige bekam. Für den Schutz ihrer Kinder tat sie aber alles. So etwas kam nicht noch mal vor, das wusste sie und dafür würde sie kämpfen. Sie merkte, wie die Wut in ihr hochstieg und bei jeder Kleinigkeit sofort heraus kommen würde.
››Der Bus kommt‹‹, sagte Peter.
››Habt ihr eure Fahrkarten bereit?‹‹
››Ja.‹‹
Der Bus hielt an und Waltraud stieg mit den Kindern ein. Sie liefen zu einer Sitzreihe mit vier Plätzen und Waltraud freute sich, dass der Bus um diese Uhrzeit so leer war. Normalerweise wimmelte es nur so von Menschen. Und sie hasste Busfahren. Viel lieber hätte sie ein Auto gehabt, so wie in der alten Zeit, als sie noch mit Maximilian in Erlendorf lebte. In solchen Momenten wünschte sie sich, dass sie mehr verdiente. Nur fünfhundert Euro mehr und schon wäre ein kleines Auto, auf Ratenzahlung oder mit Leasing drinnen. Dann könnte sie Unternehmungen mit den Kindern machen, sie zur Schule fahren oder viel einfacher einkaufen gehen. So musste sie aber wie eine Arme mit dem Linienbus durch die Stadt fahren. Sie ärgerte sich darüber, dass sie es ihren Kindern nicht bieten konnte. Was hätte sie dafür gegeben, wenigsten ein Auto zu haben?
Doch die Tatsache, dass die Kinder ohne ihren Vater aufwuchsen, war noch um einiges schlimmer. Ihnen fehlte die männliche Bezugsperson, die in solchen Konflikten wie mit den anderen Kindern, eine stärkere Hand gewesen wäre. So sahen Peter und Jochen nur ihre Mutter und orientierten sich an ihr. Vielleicht wurden sie deshalb langsam zu Mobbingopfern, die von der Schule ferngehalten mussten. Die Vorstellung machte ihr Angst. Wenn sie nicht gegen die anderen Kinder ansteuerte, dann würden sie es immer wieder tun. Man musste ihnen Grenzen zeigen. Peter und Jochen waren zwei normale Kinder. Sie hatten das gleiche Recht wie die anderen. Nur weil sie vom Dorf kamen und nicht so selbstbewusst waren, hieß es nicht, dass man mit ihnen machen konnte, was man wollte.
Читать дальше