Die Probleme nagten an ihm, immer und immer mehr. Was war nur los mit ihm? War es der schleichende Beginn der absoluten Hoffnungslosigkeit, die das letzte Fünkchen Hoffnung im Keim erstickte? Er überlegte, ob es am Lottospiel lag und fragte sich, warum er nicht noch dreißig Euro versoffen hatte und mit einem Zwanziger den Spielautomaten herausfordert hatte. Vielleicht war es der Alkohol, die Abhängigkeit, die ihm immer mehr abverlangte, immer mehr trinken, für immer weniger schöne Gefühle. Es war teuflisch, was mit Maximilian vor sich ging. Er wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und zog etwa sechs handgeschriebene Zettel aus der Schublade. Es war sein Testament, das er zur Sicherheit verfasst hatte, falls er sein Leben nicht mehr aushielt. Es war fast fertig. Maximilian spürte das Grauen in sich und beschloss, es heute noch zu beenden. Er fühlte, dass er nicht mehr lange durchhielt, dass er den Kampf des Lebens nicht ewig kämpfen konnte.
Waltraud Junker stand im Wohnzimmer und bügelte die Wäsche. Vor fünf Minuten war sie von der Arbeit zurückgekommen und ihr stand der Schweiß auf der Stirn. Ihr junges Gesicht und die langen braunen Haare, wirkten blass und farblos an jenem Tag, da man ihr ansah, dass sie acht stunden gearbeitet hatte. Sie war Kassiererin in einem Supermarkt und musste heute ausnahmsweise Regale bepacken.
Waltraud war fertig mit den Nerven und die Trennung von Maximilian steckte ihr immer noch in den Knochen. Ihr einziges Glück, das sie vor der Arbeitslosigkeit bewahrt hatte, war ihre Arbeit an sich, da die bekannte Supermarktkette natürlich auch in Hannover vertreten war und sie problemlos die Arbeitsstelle wechseln konnte.
Doch dass sie in eine neue Stadt und somit in ein neues Umfeld kam, merkte man ihr und den Kindern an. Sie selber hatte keine Kontakte in der Zeit knüpfen können und die Kinder wurden in der Schule gehänselt und gemobbt, da sie vom Land kamen, ››Dorfkinder‹‹, wie die anderen Kinder sie beschimpften. Peter und Jochen waren in ihrer schulischen Leistung so abgefallen, dass Waltraud sie gar nicht mehr wiedererkannte. Verzweifelt versuchten sie sich dem asozialen Jargon anzupassen, nur um dazuzugehören, doch häufig machte der Versuch noch mehr Probleme. Peter war in der ersten Klasse und Jochen in der zweiten, aber auch schon dort war die Disziplinlosigkeit eingekehrt. Sie hatte auch keine Hoffnung mehr, dass die beiden es auf die Realschule, geschweige denn auf das Gymnasium schafften, wo der Umgangston und die soziale Kompetenz der Schüler und Lehrer etwas höher war. Aber so wie es aussah, mussten beide auf der Hauptschule bleiben und sich entweder versuchen anzupassen, oder in der Gewalt unter den Schülern untergehen, vielleicht früher oder später wegen der Verzweiflung Drogen nehmen, kriminell werden, und schließlich in einer Entzugsklinik landen, oder sich gar umbringen.
Waltraud bekam ein unbeschreiblich schreckliches Gefühl, wenn sie nur daran dachte. Sie wollte nie etwas so Schlimmes für ihre Kinder, doch sie hatte auch nicht die finanziellen Mittel, um sie aus diesem verkorksten Umfeld herauszunehmen. Die Schulpflicht bestand und Peter und Jochen waren körperlich und geistig gesund. Sie litten ausschließlich an dem neuen Umfeld.
Waltraud ärgerte sich, dass sie kein Abitur gemacht hatte, um beiden Kindern den nötigen Antrieb zum Lernen zu geben. Sie hatte damals einfach keine Lust gehabt, das Abitur zu machen und fing gleich nach Abschluss der zehnten Klasse eine Ausbildung als Einzelhandelskauffrau an. Heute bereute sie es, dass sie damals so faul war.
Nun musste sie in einer kleinen Vier-Zimmer-Wohnung mit sechzig Quadratmetern, in einem halbwegs vernünftigen Altbau-Mehrfamilienhaus in der Hannoveraner Südstadt leben. Sie lag im dritten und obersten Stock eines Dreißiger-Jahre-Baus, hatte eine Zentralheizung, Parkettfußboden, ein Bad mit Dusche und WC, in dem man problemlos eine Waschmaschine platzieren konnte und eine Küche, in der sie zu dritt essen konnten. Überall waren die Wände mit einer weißen Tapete verziert, bis auf Jochens Zimmer, das auf seinen Wunsch und viel Hin und Her mit Waltraud, in blau gestrichen wurde. Die Wohnung war mit ihrer knapp siebenhundert Euro teuren Warmmiete relativ günstig und Waltraud musste nicht auf jeden Cent schauen, da sie durch den Kinderzuschlag und der niedrigen Lohnsteuerklasse, knapp zweitausend Euro für die Miete und zum Leben hatte. Sie war nicht besonders glücklich damit, aber für ein Leben als alleinerziehende Mutter war es ausreichend.
Waltraud war zudem stolz auf ihre Wohnungseinrichtung, denn sie bot eine Mischung zwischen Alt und Neu. Sie hatte sie bei einem Online-Möbelhaus gekauft, des knappen Geldes halber auf Raten in achtundvierzig Monaten. Sie konnte aufgrund ihrer Flucht von Maximilian so gut wie nichts mitnehmen, da sie es mit ihm nicht mehr aushielt. Eine einzige Ausnahme bildete der große Kleiderschrank in ihrem Schlafzimmer, den sie heimlich auseinandergebaut hatte und in die neue Wohnung nach Hannover geschickt hatte. Er hatte vorher ihrer Mutter gehört. Dort waren alte Erinnerungsstücke und Fotos von Waltrauds Kindheit drinnen, die sie auf keinen Fall hergab, wenn dann nur über ihre Leiche.
Waltraud hatte eine ganz gute Kindheit gehabt, aber sie war die jüngste unter vier Schwestern. Sie war in Buxtehude aufgewachsen und hatte es immer schwer gehabt, sich gegen ihre Schwestern durchzusetzen. Sie führte einen ständigen Kampf. Sie lernte aber dadurch, sich durchzusetzen und das half ihr in ihrem späteren Berufsweg. Trotzdem genoss sie die Zeit, als sie mit ihrer Mutter allein war. Eigentlich hatte sie nichts von ihr gehabt, als ihre Schwestern noch zu Hause waren. Dann war sie aber die Nummer Eins. Sie hatte so eine enge Bindung zu ihrer Mutter, dass es ihr wehtat, als sie das erste Mal allein wohnte. Sie wollte immer in ihrer Nähe sein. Nun war sie aber schon seit über einem halben Jahr nicht mehr bei ihr gewesen. Der Stress mit der Trennung hatte ihr sehr stark zugesetzt und sie hatte den Kopf voll. Sie nahm sich aber ganz stark von Herzen vor, irgendwann in der nächsten Zeit mal mit den Kindern dort hinzufahren. Ihre Mutter würde bestimmt nach Maximilian fragen, und versuchen, die beiden wieder zusammenzubringen, mit gutem Zureden. Waltraud wollte es aber nicht, da sie ihm das mit dem Geld nicht verzeihen konnte und auch seinen Anblick und das heruntergekommene Haus nicht ertragen konnte. Erst wenn Maximilian einen Alkoholentzug machte, würde sie ihn wiedersehen wollen. Vorher war daran nicht zu denken. Sie konnte es nicht ertragen wenn er trank und war immer noch sauer auf ihn, wegen dem ganzen verlorenen Geld. Außerdem sollten Peter und Jochen ihren Vater nicht so sehen. Es hatte ja schon genügt, dass sie das damals alles mitbekommen hatten. Ein zweites Mal wollte sie es ihren Kindern nicht antun. Zwar war das Leben grundsätzlich angenehmer, da Waltraud ihren Arbeitsplatz hatte, bei dem sie alle kannte, und auch Peter und Jochen hatten ihre Freunde und die Schule, aber das Elend um Maximilian war zu groß. Er war ein schlechter Einfluss für die Kinder, denn vielleicht hätten sie dann eines Tages auch mit dem Trinken angefangen. Er kümmerte sich kurz vor der Trennung auch nicht mehr um sie, sondern saß nur auf dem Sofa und trank eine Flasche Bier nach der anderen. Das ging nicht mehr!
Waltraud bügelte weiter und vernahm ein Klingeln an der Tür. Das mussten Peter und Jochen sein, die von der Schule kamen. Sie lief aus dem Wohnzimmer heraus, in Richtung der Wohnungstür und nahm den Hörer ab.
››Hallo.‹‹
››Wir sind es, Mama.‹‹
››Okay.‹‹
Waltraud drückte den Knopf und öffnete die Tür. Unten hörte sie die Schritte der Kinder auf den rauen Steinstufen und erwartete sie voller Freude. Diesmal kamen sie aber langsam die Treppe hoch und Waltraud lief aus der Tür raus, um nachzusehen. Sie erkannte Peter und Jochen schon und sah, dass Peter sein Gesicht völlig entstellt war. Auf dem Gesicht sah sie blaue Flecken und blutende Wunden. Seine Jacke war ganz zerrissen. Sie lief besorgt zu ihm.
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