Der nächste Tag verging mit Reisevorbereitungen, Pferdepflege und Planungen für den gefährlichen Ritt nach Norden. Am Abend zogen sie los, Kleiner Wolf mit seinem neuen Pferd Große Wolke, Francis mit dem treuen Husky und Tauender Schnee an Huskys Sattel gebunden. Weißer Schatten umarmte beide zum Abschied, den Jungen, mit dem sie verwandt war und den Weißen, der langsam in ihre Welt wechselte. "Ich warte auf dich, und Du wirst kommen. Denk an meine Worte, wenn du nicht weißt, wohin dein Weg führen soll."
Es fiel Francis schwer beherrscht zu bleiben, aber er drängte auf den Aufbruch. Black White ließen sie zurück. Er würde in Weißer Schatten eine liebevolle Beschützerin finden. Francis Plan war Little Rock in weitem Bogen zu umgehen, nachts zu reiten und sich am Tage versteckt zu halten. Fleisch hatten sie genug, wichtig waren Wasser und Futter für die Pferde. Es sollte einem ehemaligen Arrow Boy nicht schwer fallen sich das Nötige von den lokalen Siedlern zu leihen. Francis schmunzelte bei diesem Gedanken.
Der im Zunehmen begriffene Mond erhellte die wolkenlose Nacht. Husky und Große Wolke orientierten sich in der bekannten Umgebung problemlos. Ohne auf andere Menschen zu treffen, erreichten sie noch vor Einbruch der Dämmerung ihr erstes Ziel, einen verlassenen Hof mit Wasserquelle. Die Pferde konnten gut eine Stunde grasen, bevor der neue Tag anbrach.
Am Ausgang dieser lauen Nacht saßen ein weißer Mann, ehemaliges Mitglied der Arrow Boys und ein Indianerjunge, durch eben diese Verbrecherbande seiner Eltern beraubt, am Rande einer Weide und sahen drei Pferden zu, die sich das spärliche Gras schmecken ließen.
"Warum nicht auch Menschen so miteinander leben, warum töten, warum ihr meine Eltern töten?" Erneut überkam Kleiner Wolf eine tiefe Traurigkeit.
Francis kannte keine Antwort auf diese Fragen. "Ich habe deine Eltern nicht getötet. Ich habe dich gerettet."
"Warum nicht auch Eltern retten? Ich nur haben noch Weiße Feder und nur dafür noch leben."
Wie gern hätte Francis den Jungen an sich gezogen, hätte ihm erzählt, wie seine Eltern durch die Gnadenlosigkeit anderer verzweifelten, wie sein eigener Lebensweg plötzlich wegbrach und er durch Verbrecher gerettet wurde, um schließlich einer der ihren zu werden. Aber Kleiner Wolf schien ihm viel zu stolz sich von einem Weißen trösten zu lassen. So blieb er regungslos neben dem Jungen sitzen und sprach in die Nacht hinein. "Wir werden in drei Tagen wieder bei Weißer Feder sein. Ihr werdet euch gegenseitig trösten. Und ich bringe euch zurück zu Eurem Stamm." Er versuchte so sicher wie möglich zu klingen, nicht nur zur Beruhigung des Indios sondern auch, um seine eigenen Zweifel zu besiegen. Objektiv betrachtet, lag vor ihnen ein wahres Himmelfahrtskommando.
Als der Tag nahte, riefen sie die Pferde und führten sie in das einzig verbliebene Gebäude.
"Wir müssen abwechselnd wachen. Ich beginne. Schlaf jetzt."
Kleiner Wolf folgte Francis Aufforderung und schmiegte sich an Große Wolke. Das Tier konnte ihm geben, was er von dem Weißen nicht annehmen wollte, Nähe und Liebe. Bald hörte Francis ihn ruhig atmen. Er löste seinen Blick von dem friedlich schlafenden Kind und stieg auf das Dach des Stalls, um die Umgebung besser beobachten zu können. Kleiner Wolf musste das irgendwie mitbekommen haben. Jedenfalls tauchte er drei Stunden später von allein neben Francis auf, der ihm eigentlich noch etwas Schlaf gönnen wollte. "Danke" sagte er nur und schaute den Weißen mit ernster Miene an.
Es war nur ein Wort, aber Francis Herz überschlug sich vor Freude. Könnte es sein, dass dieser Junge ihn akzeptierte? Dafür würde er alles geben. Dafür wollte er kämpfen.
"Du jetzt schlafen." Kleiner Wolf sprach mit fester Stimme.
"Wecke mich sofort, wenn du etwas Verdächtiges siehst. Ich schlafe hier oben." Mit diesen Worten drückte Francis das Gewehr dicht an seinen Körper, drehte sich zur Seite und schlief rasch ein. Die Sonne stand schon weit im Westen, als er wieder erwachte. Kleiner Wolf saß immer noch neben ihm. Er hatte offensichtlich die ganze Zeit Wache gehalten. Das Quartier zog glücklicherweise keine weiteren Besucher an. Francis schickte Kleiner Wolf wieder hinunter zu den Pferden. "Schlaf noch etwas. Ich wecke dich rechtzeitig."
Die Stunden bis zur Dämmerung hing Francis seinen Gedanken nach. Man stellt sich das Leben von Räubern oft spannend vor und meint, sie würden jeden Tag einen Menschen umbringen. In Wirklichkeit pflegten sie außerhalb ihrer Beutezüge einen eher beschaulichen Tagesablauf. Little Rock war eine ruhige Stadt. Von den Nichteingeweihten wusste keiner um ihr wirkliches Tun. Sie galten als reiche Viehzüchter, deren Herden von Angestellten betreut wurden und die hin und wieder zu wichtigen Geschäftsabschlüssen in die Ferne zogen. Überfälle verübten sie generell nur jenseits der Distriktgrenze und in Gebieten mit wenig gefestigter Staatsmacht. So waren sie bisher stets unerkannt geblieben und hatten einen hübschen Besitz angesammelt. Irgendwann wollten sie alle in ein gutes bürgerliches Leben zurückkehren, aber bis dahin hatte es noch Zeit. Sie waren jung und der Reiz des Abenteuers viel zu groß. Für Francis gehörte all das der Vergangenheit an. Wenige Tage genügten sein Leben ein zweites Mal völlig umzukrempeln. Eines stand fest, ein Zurück gab es nicht mehr. Die Zukunft jedoch lag in den Sternen. Mit Einbruch der Dämmerung weckte er Kleiner Wolf. "Bring die Pferde zur Weide, ich packe inzwischen."
Es dauerte nicht lange, bis Francis ihre wenigen Besitztümer zusammengebunden hatte. Die Sättel lagen bereit. In einer Stunde wollten sie weiterziehen. Der Abend war warm. Francis trug sein Hemd über der Schulter, als er zu Kleiner Wolf ging. Auch der saß nur im Schurz und sah zu ihren Tieren. Als er Francis bemerkte, trat ein leichtes Lächeln auf sein sonst so ernstes Gesicht. "Wir jetzt zwei Indianer."
"So soll es sein", sagte Francis, aber Kleiner Wolf sah schon wieder zu den Pferden.
Mit Einbruch der Dunkelheit sattelten sie Husky und Große Wolke, dann zogen sie ab. Ihr Ziel war eine Gruppe von Sandsteinfelsen mit Höhlen und Wasservorkommen. Natürlich konnten sie zu jeder Zeit auf Jäger oder auch zwielichtige Gestalten treffen. Da die nächste Siedlung jedoch über einen Tagesritt entfernt lag, hoffte Francis die Reise ohne Probleme fortzusetzen. Sie ritten schweigend nebeneinander, aufmerksam auf jedes Geräusch achtend, aber es blieb alles still. So sprach er schließlich zu seinem jungen Freund: "Auch wenn ich Deinen Vater nicht ersetzen kann, so will ich doch dein Freund sein. Ich will auf dich achten und dich gemeinsam mit deiner Schwester zu Eurem Stamm zurückbringen. Was aus mir wird, muss man sehen, aber es ist sicher von Vorteil, wenn ich ein bisschen was von deinem Volk lerne. Vielleicht kannst du mir ein paar Worte eurer Sprache beibringen und etwas aus eurem Leben erzählen."
Kleiner Wolf sah ihn fragend an. Offenbar verstand er die Worte nicht.
"Lehre mich die Sprache der Navajo." Mit Handbewegungen in seine und Kleiner Wolfs Richtung unterstützte Francis diese Aussage.
"Wir Diné, nicht Navajo wie ihr sagt."
So lernte Francis das erste Wort in der Sprache der Diné, genannt Diné bizaad. Es folgten in dieser Nacht noch einige. Die recht holprige Aussprache der ungewohnten Laute ließen Kleiner Wolf manchmal leise lachen, aber er gab sich viel Mühe, wunderte sich sicherlich über das seltsame Anliegen des dadurch aber nicht mehr ganz so fremden Weißen und wurde auch etwas von seinem Schmerz abgelenkt. So verging der Ritt als Schulstunde. Es dämmerte bereits, als sie ihr Ziel erreichten. Zwischen den abgerundeten Felsformationen fanden sich teils größere Ansammlungen von Regenwasser und in der Umgebung auch etwas Grasbewuchs. Den Tag über schlief einer von ihnen bei den Pferden, der andere beobachtete von einer Anhöhe die Umgebung. Sie wechselten alle zwei drei Stunden. Bei der Übergabe fragte kleiner Wolf jeweils Vokabeln ab. Von weitem hätte man die beiden gut für Vater und Sohn auf Abenteuerreise halten können, mit nacktem sonnengebräuntem Oberkörper wäre Francis vielleicht sogar als Indianer durchgegangen. Nur der inzwischen wilde Bartwuchs sprach dagegen. Am Abend stieg er hinauf zu Kleiner Wolf. Die Pferde weideten friedlich. Vorsorglich hatten sie die Tiere in eine von Felsen umgebene Senke, deren Ausgang von ihrem Beobachtungspunkt mit wenigen Schritten bergab zu erreichen war, geführt. Der nächste Zielpunkt ihrer Reise würde der schwierigste sein. Wenn sie nicht einen mehrtägigen Umweg ohne sichere Wasservorkommen in Kauf nehmen wollten, mussten sie durch Snake Valley ziehen. Die Ansiedlung bestand nur aus wenigen Gehöften, aber ein Weißer in Gesellschaft eines Indianerjungen würde sofort Misstrauen erwecken, und Francis wusste ja nicht, ob die Suche nach ihnen andauerte. Was gab es für Möglichkeiten? Sie konnten einen Hof überfallen und sich nehmen was wir brauchten. Francis erwog dies wahrlich, hatte er doch über zehn Jahre nicht anders gelebt. Er konnte aber auch Kleiner Wolf als seinen Gefangenen ausgeben. Die Versklavung von Indianern war vor allem Richtung Mexiko nicht ungewöhnlich. Dies wollte er jedoch dem Jungen, der gerade seine Freiheit wieder gewonnen hatte, nicht antun. Er konnte ihn auch zum Weißen machen und hoffen, dass dies in der Dunkelheit nicht auffiel. Voraussetzung wäre aber die langen schwarzen Haare zu opfern. Francis entschied sich für Letzteres. Er sah den Jungen innerlich lächelnd, nach außen hin aber ernst und entschieden an. "Wir reiten durch bewohntes Gebiet. Du musst wie ein Weißer aussehen."
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