Wenn's nur das wäre, dachte Francis. Er war immer noch voll des Staunens über Nevada. Aber jetzt hieß es den Blick nach vorn zu richten. Sie mussten eine Mission erfüllen. "Komm Kleiner Wolf, wir werden deine Schwester nicht enttäuschen."
Die Nacht hüllte sie in einen Sicherheit spendenden Schleier, so dass beide auf dem Pferd saßen, um schneller voranzukommen. Sie hatten etwa drei Stunden Weg vor sich.
Als sie sich Little Rock näherten, wurde Francis doch etwas flau im Magen. Ein Mann und ein Junge versuchten eine Banditenhochburg, nichts anderes war Little Rock, auch wenn sich der Ort eine perfekte Tarnung zugelegt und die örtlichen Organe reichlich geschmiert hatte, zu überfallen um Pferde zu stehlen. Dafür wurde man üblicherweise gehängt. Aber sie kamen völlig unerwartet und waren zu allem bereit. Hier ging es nicht um schnöden Besitz sondern um das Glück zweier Kinder und die Ehre eines Mannes. Sie umgingen den Ort in weitem Bogen. Es war so dunkel, dass man keine zehn Fuß weit sehen konnte. Francis orientierte sich an der spärlichen Beleuchtung der Stadt und folgte dem Weg nach seiner Erinnerung. Husky führten sie jetzt und gingen zu Fuß. Kleiner Wolf war nicht zu hören, während Francis schwere Stiefeln in den Ohren des Jungen einen Heidenlärm erzeugten. "Ausziehen!" Kleiner Wolf deutete nach unten. Ob des Befehlstons wollte Francis schon empört widersprechen, aber dafür war jetzt wahrlich nicht die Zeit. Der Junge hatte ja auch recht. So gehorchte Francis und hing die Stiefel an den Sattel. Etwa eine Viertel Meile vor den am Südrand der Stadt gelegenen Pferdekoppeln band er Husky an jenen alten Baum, den er sich nach langer Überlegung als Startpunkt für die heiße Phase ihrer Unternehmung auserkoren hatte. "Sei ganz ruhig mein Freund."
Husky, Pferd eines Arrow Boy und Francis bester Freund seit langer Zeit, war es gewohnt in aller Stille zu warten und für eine schnelle Flucht verfügbar zu sein.
Bis auf 10 Fuß näherten sich die beiden Diebe in geduckter Haltung der äußeren Koppel, dann krochen sie auf dem Bauch weiter. Viel konnten sie nicht erkennen, waren so aber ebenfalls fast unsichtbar. Sie schlüpften durch die Umzäunung. In der Nähe stand ein kräftiger Schimmel, den Kleiner Wolf mit leisen melodischen Lauten anlockte. Ruhig näherte sich das Tier. Es roch an der Kleidung des Jungen und machte eine kaum wahrnehmbare Bewegung, so als wollte es sagen, das passt aber nicht zu dir. Dennoch ließ es die beiden Eindringlinge neben sich gehen. Im Schutze seines Körpers überquerten sie den umzäunten Bereich, während Kleiner Wolf immer wieder leise, für einen Menschen kaum wahrnehmbare Töne von sich gab. Tauender Schnee fanden sie nicht.
"Es gibt mehrere Gehege", flüsterte Francis auf die fragenden Blicke seines Begleiters.
Am nächsten Zaun angekommen, verabschiedete sich Kleiner Wolf von ihrem Schimmelfreund. Ganz ruhig zog des Tier wieder ab. Und so war es auf jeder Koppel. Kleiner Wolf lockte ein Pferd an. Im Schutz seines Körpers gingen sie bis zum nächsten Zaun. Dann verabschiedete sich der Junge auf eine auch für Francis, der durchaus etwas von Pferden verstand, unnachahmlich sanfte und liebevolle Art. Francis glaubte, dass Kleiner Wolf in dieser Nach viele neue Freunde fand.
Sie kamen schon nahe an die ersten Häusern von Little Rock. Hier lagen drei abgezäunte Areale nebeneinander. Wenn sie Tauender Schnee nicht in einem davon finden würden, so waren sie entweder an dem Pony vorbeigelaufen oder dieses nicht hier. Inzwischen glaubte Francis fest daran, dass Kleiner Wolf das Tier auch aus größerer Entfernung hätte herbeirufen können. Die Magie des Jungen verzauberte auch den Weißen, und er konnte nicht umhin dem Jungen übersinnliche Kräfte zuzugestehen.
Die mittlere Koppel kannte Francis gut. Hier standen die Pferde des Boss. Mit Sicherheit würde am gegenüberliegenden Zaun ein Mann Wache halten. Im Schutze eines weiteren Pferdefreundes näherten sie sich der Begrenzung, aber dort stand niemand. Erst als sie unmittelbar am Zaun ankamen, sahen sie einen Menschen im Gras liegen. Little Jack. Er schlief. Francis wusste nicht, welches Schicksal für den schlafenden Wächter angenehmer wäre, wenn sie ihn auf der Stelle erwürgten oder er sich morgen vor dem Boss verantworten musste. Das war ihm aber plötzlich egal, denn aus der Dunkelheit näherte sich ein mittelgroßes Pony mit weißen Flecken. So beherrscht kleiner Wolf bisher war, jetzt zeigte er doch seine Erregung und begann leicht zu zittern. Francis legte eine Hand auf die Schulter des Jungen, der sich zum Glück schnell beruhigte. Tauender Schnee folgte ihnen. Kleiner Wolf berührte es am Hals und sprach leise auf das Pferd ein. Ohne Probleme kamen sie bis zur äußeren Koppel, wo der Schimmelfreund schon wartete. Doch kurz vor dem letzten Tor wurden zwei Pferde unruhig und wieherten laut. Sie erstarrten zur Salzsäule, aber im Ort tat sich nichts. Vor ihnen stand ein edles schwarzes Tier. Francis hätte es in der dunklen Nacht fast nicht wahrgenommen, wäre da nicht ein kleiner Ring weißen Fells an seinem linken Vorderlauf gewesen. Es beachtete sie kaum. Als er aber seinen Hals streichelte und sagte "komm mit uns, ich verspreche dir ein freies Leben", ging es langsam neben ihm her. Francis freute sich wie ein kleiner König. Ein fremdes Pferd vertraute ihm. Er konnte es auch.
Kleiner Wolf lief zwischen Tauender Schnee und dem Schimmel. Sie sollten ja besser drei Tiere mitnehmen, hatte Nevada Johns geraten. Sie kamen gerade bei Husky an, als es im Ort unruhig wurde. Fackeln bewegten sich und man hörte Schreie "… schlafen… Schwein… Haut abziehen… verdammte Brut…"
Jetzt konnten sie nur noch aufsitzen und Richtung Süden fliehen, weg von Little Rock aber auch weg von Weiße Feder. Natürlich mussten sie mit der Entdeckung rechnen, aber am Ende war Francis doch überrascht. Die Lösung des Rätsels kam von Kleiner Wolf: "Keine Angst, alle Pferde frei und laufen weg von böse Mann."
Francis begriff blitzschnell. Kleiner Wolf hatte hinter ihm gehend die Tore nicht verschlossen, und einige der Tiere nutzen die neu gewonnene Freiheit, was man in Little Rock offenbar rasch bemerkte. Kind! Francis dachte dies nur, musste sich aber sogleich wieder auf die Flucht konzentrieren. Es gab nur ein Ziel, die Höhlen am Damons Peak. Hier lagen genügend Verstecke. Man konnte die engen Schluchten nur hintereinander passieren und musste immer mit feindlich gesinnten Indianern rechnen. Er kannte sich dort gut aus und Kleiner Wolf würde ihnen vielleicht zu manch rettendem Kontakt verhelfen. Weiße Feder war vorerst in Sicherheit.
In straffem Ritt und geschützt durch die Nacht erreichten sie die Ausläufer der Felsenlandschaft. Kleiner Wolf war ohne Sattel und Zaumzeug überragend geritten und verstand es auch noch, Tauender Schnee und ihren neuen Freund Black White, so hatte Francis das stolze schwarze Ross mit dem weißen Fellstreifen am Vorderbein genannt, eng bei sich zu halten. Sie wussten nicht, ob ihnen ihre Verfolger auf den Fersen waren und vertrauten vor allem darauf, dass sich ihre Spuren auf dem felsigen Untergrund verlören. Mehrfach wechselten sie die Richtung und erreichten in der Dämmerung Rosenbergs Hole. Das Loch war ein geräumiges Höhlensystem mit gegenüber der Umgebung erhöhtem Eingang. Man hatte einen guten Ausblick, war selbst aber ausreichend gedeckt. Indianer hielten den Ort für magisch und näherten sich ihm nur an wenigen Tagen im Jahr. Vielen Weißen galt die Höhle als verwunschen. Es gab Irrwege und tiefe Spalten. So mancher kehrte von einer Erkundung nicht wieder zurück. Tief im Stollen entsprang eine Quelle, und allerlei Kleingetier konnte man wenn nötig als Nahrung gebrauchen. Zusammenfassend war Rosenbergs Hole das optimale und auch für längere Zeit nutzbare Versteck. Sie saßen ab und führten ihre Tiere auf einem steilen schmalen Pfad zum Höhleneingang. Black White und Tauender Schnee folgten Husky und Francis, Kleiner Wolf und sein Schimmel bildeten den Abschluss. Tief in der Höhle war ein Lichtschein zu erkennen, ein schmaler Deckendurchbruch. Dort floss die Quelle. Dorthin wollte Francis. Vorsorglich banden sie die Pferde an Felsvorsprünge. In Ermanglung weiterer Gefäße mussten die Stiefel als Wasserbehälter dienen. Während Kleiner Wolf die Umgebung beobachtete, ging Francis zur Quelle. Gerade hatte er alle Tiere mit Wasser versorgt, als der Junge einen scharfen Pfiff abgab. So schnell es ging, eilte Francis zum Eingang der Höhle. Ein Pferd näherte sich mit unsicherem Schritt, darauf ein Mann, der sich offensichtlich nur mit Mühe im Sattel hielt. Als er nah genug war, sahen sie eine breite Bahn frischen Blutes über den Sattel rinnen, und sie erkannten den Reiter, Little Jack. Offensichtlich folgte ihm niemand. Kurz vor der Höhle brach das Tier zusammen. Jack rollte wie ein schwerer Sack zur Seite. "Francis? Ich wusste es. Wer sonst kann es wagen dem Boss ein Pferd zu stehlen. Aber du wirst das noch bereuen." Little Jack sprach mit schwacher Stimme.
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