"Ich bin Francis. Francis ist mein Name. Ich werde euch retten!"
Kleiner Wolf sah den Weißen abschätzig an. "Du dich retten selbst wenn kannst."
Dann wandte er sich erneut seiner Schwester zu. Francis verstand kein Wort ihres leisen Gesprächs, aber er sah, wie die Kleine immer wieder in seine Richtung wies, was bei ihrem Bruder offensichtlich nicht auf Gegenliebe stieß. Nur widerwillig drehte der sich zu dem Weißen. "Schwester muss Tauender Schnee finden. Du uns nicht helfen, wir allein gehen."
"Wer ist Tauender Schnee?"
"Pony von Weiße Feder. Hat weiße Flecken auf braune Fell wie tauender Schnee. Böse Männer haben mitgenommen. Müssen wieder finden, sonst Kleine Feder sehr traurig und bald sterben."
Wenn wir das Vieh wiederholen, werden wir alle sterben. Dies dachte Francis nur, sagte aber so überzeugend wie möglich: "Wir werden Tauender Schnee finden. Ihr müsst mir vertrauen, denn nur ich weiß, wo Tauender Schnee jetzt ist."
Die Kinder tuschelten miteinander, dann wandte sich Weiße Feder zu Francis und umarmte ihn völlig unerwartet. Dabei sagte sie immer wieder die gleichen unverständlichen Worte, die Kleiner Wolf wie folgt übersetzte: "Du Tauender Schnee retten, sie immer bei dir."
Es fiel Francis schwer dies ernst zu nehmen, aber viele Dinge im Leben entscheidet nicht das Bewusstsein. Seine Seele hatte längst beschlossen die Zuneigung dieser Kinder zu gewinnen, koste es was es wolle. Er sagte mit fester Stimme: "Wir werden Tauender Schnee gemeinsam retten, das schwöre ich."
Zum ersten Mal sah er so etwas wie Hochachtung in den Augen des Jungen und ein kurzes Strahlen auf dem Gesicht des Mädchens. Er musste sich ernsthaft überlegen zu seinen ehemaligen Kameraden zurückzukehren, um ein Pferd zu retten. Je länger er darüber nachdachte, umso weniger unnatürlich erschien ihm die ganze Sache. Hätte er Husky im Stich gelassen? Sicher nicht. Es stand also fest. Sie würden nach Süden ziehen und sich der Gefahr aussetzen als Pferdediebe in Little Rock am Galgen zu enden. So beschloss Francis feierlich und schwor vor sich selbst die Kinder nicht ohne Tauender Schnee zu ihrem Stamm zurückzubringen.
Aufbrechen konnten sie erst in der Dunkelheit. Zu groß war die Gefahr der Entdeckung. Francis nutze die verbleibende Zeit sich seine neuen Freunde in Ruhe anzusehen. Typische Indianerkinder halt, lange schwarze Haare, dunkle große Augen, dunkle Haut. So dachte einer, der fest in der weißen Welt verwurzelt war, sich bisher nicht wesentlich für Indianer interessierte und sie mit der bei Weißen verbreiteten Überheblichkeit eher dem Tierreich zurechnete. Der Junge, schätzungsweise 13 Jahre alt, trug lediglich einen Schurz um die Hüfte. Seine kleinen braunen Füße schienen es gewohnt ohne Schuhe zu gehen. Francis Blick glitt weiter zu Weiße Feder. Das Mädchen war bestimmt zwei bis drei Jahre jünger als ihr Bruder. Ihr Kleid trug reiche Stickerei und bedeckte schlanke aber durchaus muskulöse Beine Nur bis zum Oberschenkel. Die Füße hatte sie im Fell von Husky vergraben.
"Ich spreche leider eure Sprache nicht. Ich werde langsam sprechen. Du wirst mich fragen, wenn du etwas nicht verstehst. Du wirst meine Worte deiner Schwester übersetzen und mir auch alles sagen, was sie sagt. Verstanden?"
Kleiner Wolf schien mit sich zu ringen.
"Verstanden?", fragte Francis erneut.
"Verstanden und akzeptiert."
Einen solchen Englischwortschatz hätte Francis dem Kind eines, wie er immer noch dachte Wilden, nie zugetraut. "Wir reiten nachts. Wir müssen den Posten von Bullet Nose umgehen und uns dem Lager der bösen Männer von Süden nähern. Sie halten die Pferde auf mehreren Koppeln. Hoffentlich erkennt dich Tauender Schnee und bleibt ruhig. Du scheinst sehr gut mit Pferden umgehen zu können und wirst darauf achten, dass auch die anderen Tiere keinen Lärm machen. Wenn die Sonne komplett verschwunden ist, ziehen wir los. Wir müssen noch eine Meile bis zur Furt schwimmen. Dann verlassen wir den Fluss und ziehen nahe an Bullet Nose vorbei in Richtung Süden. Bestimmt nimmt niemand an, dass wir dieses Wagnis eingehen. Ich denke, sie suchen uns eher am Fluss."
"Auf geht's“, rief Francis. Er und die Kinder hielten sich an den Riemen der Satteldecke fest und glitten neben Husky ins Wasser. Mit ruhigem Beinschlag schwamm das Pferd flussabwärts. Die Strömung trieb sie rasch voran, und bald wurde die Böschung niedriger, bis sie schließlich in einen breiteren flachen Abschnitt des Johnson River gelangten. Hier gingen sie ans Ufer und wandten sich direkt in Richtung Bullet Nose. Sie wollten den Posten in dieser Nacht passieren, um bei Tagesanbruch in der üblicherweise menschenleeren Prärie anzukommen. Gegen ihren Willen aber am Ende ohne großen Widerstand setzte Francis Weiße Feder auf Husky. Sie kamen so einfach schneller voran. Kleiner Wolf wich geschickt allen Hindernissen aus, während seinem weißer Begleiter schmerzhaft in Erinnerung gerufen wurde, dass er seit Ende seiner Kindheit kaum mehr barfuss gegangen war. Es gab allerdings ein einschneidendes Ereignis in seinem Leben, durch welches er um ein Haar viele Jahre Ketten statt Schuhe getragen hätte. Daran wollte er sich jetzt nicht gern erinnern, zumal das damals der Beginn seiner Laufbahn als Arrow Boy und somit letztlich Auslöser der heutigen Situation war. Seine ehemaligen Gefährten, so hoffte er, hatten die Sache aber nicht vergessen und gingen vermutlich davon aus, dass er das Risiko einer erneuten Verhaftung scheuend, sich keinesfalls in die Nähe des gut bewachten Postens von Bullet Nose wagen würde. In einer Zeit, in der nicht nur das eigene Leben von Zufällen und Entscheidungen auf Basis von Vermutungen abhing, fand er es unvermeidlich ein Risiko zu tragen und sich anders zu verhalten, als es logischer Überlegung entsprochen hätte. Logisch denken können deine Feinde auch. Es sind die unerwarteten Reaktionen, welche dir einen Vorteil verschaffen. Und so gingen sie ruhig und im Schutze der mondlosen Nacht in Schlagdistanz an Bullet Nose vorbei. Auf der Koppel standen nur wenige Pferde. Hinter der Verschanzung rührte sich nichts. Vermutlich war ein Teil der Garnison aufgrund des kürzlich erfolgten Bankraubs nach Alberchinque abgezogen. Sie konnten nur hoffen, dass die Soldaten nicht auf die Spur der Arrow Boys treffen und gemeinsam mit ihnen in Little Rock ankommen würden.
Mit jedem Fuß Abstand, den sie von Bullet Nose gewannen, wurde Francis ruhiger und begann die nächsten Schritte zu planen. Der Überfall auf die Heimstatt der Arrow Boys war ein überaus verwegenes und nach menschlichem Ermessen zum Scheitern verurteiltes Unternehmen. Er sollte dabei keine Kinder mitnehmen, aber ohne zumindest eines von ihnen hätte er Tauender Schnee kaum erkennen, geschweige denn entführen können. Nach reiflicher Überlegung fiel seine Wahl auf Kleiner Wolf. Weiße Feder würde alles verlangsamen und ihn im Falle der Entdeckung leichter erpressbar machen. Sie musste irgendwo versteckt bleiben. Francis wollte eine sichere Bleibe für die Kleine finden. Auch hatten sie seit nunmehr zwei Tagen nichts mehr gegessen. Eine Rast wäre gut für sie alle. Aber wer würde einem weißen Outlaw mit zwei Indianerkindern Obdach gewähren? Da erinnerte er sich an eine Begebenheit aus seiner Frühzeit bei den Arrow Boys. Sie hatten einen durchaus erfolgreichen Postüberfall unternommen und waren auf dem Rückweg nur noch 10 Meilen von Little Rock entfernt, als sie eine neu erbaute Hütte ausmachten.
"Welcher Coyote will sich denn da an unseren Bau herangraben?", fragte damals der Boss.
Schnell erreichten sie die Hütte und fanden darin einen ausgemergelten halbnackten Mann, der offensichtlich einen Stollen in die Erde trieb.
"Pfoten hoch und rauskommen" schrie ihn der Boss an.
"Gnade die Herren, bei mir ist nichts zu holen. Ich grabe nur nach Fossilien, die für euch völlig wertlos sind."
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