Mr. Hindley war eines Nachmittags weggegangen, und Heathcliff wagte, sich einen Feiertag zu machen. Er war etwa sechzehn Jahre alt, hatte kein häßliches Gesicht und keinen schlechten Verstand. Dennoch ging ein innerlich und äußerlich abstoßender Eindruck von ihm aus, von dem man heute nichts mehr bemerkt. Vor allem war seine früher empfangene Bildung ganz und gar verlorengegangen. Die harte Arbeit von morgens bis abends hatte jegliche Wißbegierde, die Liebe zu Büchern, die Lust zum Lernen ausgelöscht. Auch das Selbstbewußtsein, das ihm die Zuneigung des alten Mr. Earnshaw in seiner Kindheit unwillkürlich verliehen hatte, bestand nicht mehr. Lange kämpfte er noch darum, sich mit Cathys Studien auf gleicher Höhe zu halten; dann gab er es mit schmerzlichem, doch stummem Bedauern auf; es war ein endgültiges Aufgeben. Keinen Schritt mehr wollte er nun auf dem Wege aufwärts tun, nachdem er eingesehen hatte, er müsse künftig unterhalb der zuerst erstiegenen Stufe bleiben. Bald geriet auch seine äußere Erscheinung in die gleiche Verfassung wie sein Geist. Der Gang wurde schlaff, der Blick noch unruhiger als zuvor. Seine von Natur scheue Umgangsart steigerte sich zu einer ganz ungeselligen Verdrossenheit. Es schien ihm grimmige Freude zu bereiten, wenn er die Zuneigung seiner wenigen Freunde in Abneigung umkehrte. Noch immer kamen Catherine und er in seiner freien Zeit zusammen. Doch er kleidete seine Empfindungen für sie nicht mehr in Worte und wich mit bitterem Mißtrauen ihren kindlichen Zärtlichkeiten aus. Es war, als sähe er es nicht als freiwillig und vergnüglich an, wenn man Zeichen des Anteils an seine Person verschwendete.
An jenem Nachmittag nun trat er in den Wohnraum und kündigte an, während ich mit Cathy eines ihrer Kleider änderte: er wolle einmal nichts tun. Sie aber hatte nicht damit gerechnet, daß er gerade heute frei sein würde, sondern angenommen, nun würde sie das ganze Haus für sich haben. Daher war Mr. Edgar auf irgendeinem Wege von ihr benachrichtigt worden, ihr Bruder sei abwesend, und soeben bereitete sie sich vor, ihren Freund Linton zu empfangen.
»Cathy, bist du diesen Nachmittag beschäftigt?« fragte Heathcliff. »Willst du ausgehen?«
»Nein, es regnet«, antwortete sie.
»Aber du hast dein seidenes Kleid an! Ich hoffe, es kommt niemand.«
»Nicht, daß ich wüßte«, stotterte sie. »Du müßtest eigentlich auf dem Felde sein, Heathcliff. Es ist eine Stunde nach dem Essen, und ich dachte, du seist schon gegangen.«
»Hindley befreit uns nicht gerade oft von seiner schauderhaften Gegenwart«, entgegnete der Junge. »Heute arbeite ich nicht mehr, ich bleibe bei dir.«
»Der Josef wird es verraten! Es ist besser, wenn du gehst.«
»Er ladet Kalk, an der anderen Seite von Pennistow Crag. Bis zum Abend hat er zu tun und wird es nicht merken.«
Dabei begab er sich ans Feuer und nahm Platz. Cathy dachte mit gerunzelter Stirn nach. Sie mußte den Weg für ihren Besucher frei machen. Nach einem Schweigen: »Isabella und Edgar wollten vielleicht kommen. Bei diesem Regen erwarte ich sie kaum, aber es ist doch möglich, und dann kommt es heraus und du wirst gescholten.«
»Laß ihnen durch Ellen sagen, du hättest zu tun. Wegen dieser blöden Freunde wirst du mich nicht fallen lassen! Manchmal möchte ich schon schimpfen, daß sie – aber ich will nicht –«
»Daß sie was?« rief Catherine und sah ihn verwirrt an. »O Nelly«, fuhr sie ärgerlich fort und zog den Kopf aus meinen Händen, »da hast mir alle Locken aus dem Haar gekämmt! Es ist genug, laß nur. Worüber willst du schimpfen, Heathcliff?«
»Über gar nichts – aber besieh einmal den Kalender an der Wand.« Er zeigte auf das eingerahmte Blatt neben dem Fenster. »Die Kreuze bezeichnen die Abende, die du mit den Lintons verbracht hast, und die Punkte die Abende mit mir. Kannst du sie erkennen? Ich habe jeden Tag vermerkt.«
»Ja, ja. Äußerst albern. Als ob ich darauf acht gegeben hätte. Welchen Sinn soll das haben?«
»Dir zu zeigen, daß ich darauf acht gebe.«
»Ich soll also immer bei dir sitzen? Was würde ich davon haben? Worüber sprichst du mit mir? Ebensogut könntest du stumm oder ein Baby sein – so ist alles, worüber du mich unterhältst oder was du sonst tust!«
»Du hast mir noch niemals gesagt, daß ich zuwenig spreche oder daß du es nicht magst, wenn ich mit dir zusammen bin, Cathy!« rief er in großer Erregung.
»Das ist überhaupt kein Zusammensein, wenn jemand nichts sagt und nichts weiß.«
Er sprang auf. Aber er hatte keine Zeit, seine Gefühle weiter auszudrücken. Der Hufschlag eines Pferdes war auf dem Pflaster zu hören. Dann wurde leise angeklopft. Strahlend vor Freude über die unerwartete Einladung trat der junge Linton ein. Catherine bemerkte sicherlich den Unterschied zwischen ihren beiden Freunden, als der eine eintrat und der andere hinausging. Es war, wie wenn man einen kahlen hügeligen Kohlenbezirk mit einem schönen fruchtbaren Tal vertauscht. Auch die Stimme und der Gruß Edgars drückten diesen Gegensatz aus; er hatte eine angenehme leise Art der Rede und der Aussprache, ähnlich wie Sie, Mr. Lockwood, weniger barsch als in unserer Gegend üblich.
»Ich komme doch nicht zu früh?« fragte er mit einem Blick auf mich. Ich hatte mit dem Säubern des Geschirrs begonnen und kramte in den Schubfächern der Anrichte herum.
»Nein, nein«, erwiderte Catherine. »Was machst du da, Nelly?«
»Meine Arbeit, Miß.« Denn Mr. Hindley hatte angeordnet, ich solle stets als Dritte anwesend sein, falls Linton kommen würde. Cathy stellt sich hinter mich und flüsterte: »Scher dich weg mit deinen Tüchern! Wenn Besuch da ist, dürfen Dienstboten nicht im selben Zimmer aufräumen und aufwischen!«
Ich antwortete laut: »Ich benutze die Gelegenheit, weil der Herr nicht im Hause ist. Er haßt es, wenn man in seiner Gegenwart herumwirtschaftet. Mr. Edgar wird es gewiß entschuldigen.«
»Ich hasse es, wenn du in meiner Gegenwart herumwirtschaftest!« fuhr die junge Dame gebieterisch hinein, ohne ihrem Gast die Zeit zu einer Antwort zu lassen. Seit dem Streit mit Heathcliff hatte sie ihren Gleichmut noch nicht wiedererlangt.
»Ich bedaure sehr, Miß Catherine!« war meine Erwiderung, und ich setzte beharrlich meine Arbeit fort.
Sie riß mir das Tuch aus der Hand, in der Annahme, Edgar könne dies nicht sehen, und kniff mich voller Wut in den Arm. Ich sagte schon, daß ich sie nicht mehr mochte und ihre Eitelkeit manchmal zu demütigen suchte. Außerdem hatte sie mir wirklich weh getan. Ich erhob mich von den Knien und schrie:
»Oh, Miß, Sie sind ungezogen! Sie haben kein Recht, mich zu kneifen! Das lasse ich mir nicht gefallen.«
»Ich habe dich überhaupt nicht angefaßt! Du lügst, du bist ein verlogenes Geschöpf!« kreischte sie. Dabei zuckten ihr die Finger, um den Griff zu wiederholen, und sie war bis an die Ohren rot vor Wut. Ihre Leidenschaften konnte sie ja niemals verbergen, und ihre Haut wurde sogleich glühend rot.
»Und was ist das hier?« gab ich zurück und zeigte auf einen unbestreitbar roten Fleck.
Sie stampfte mit dem Fuße auf, schwankte einen Augenblick und dann, unwiderstehlich getrieben von dem bösen Geist in ihr, schlug sie mich auf die Backe. Es war ein schmerzender Schlag, so daß meine Augen tränten.
»Catherine! Aber liebe Catherine!« mischte sich Linton ein, ganz außer sich über die doppelte Sünde der Lüge und der Gewalt, begangen vom Gegenstand seiner Verehrung.
»Du gehst hinaus, Ellen!« wiederholte sie, am ganzen Körper zitternd.
Der kleine Hareton, der mir überallhin folgte und neben mir auf dem Boden saß, begann beim Anblick meiner Tränen gleichfalls zu weinen und schrie: »Die böse Tante Cathy!« mit dem Erfolg, daß sich ihre Wut seinem unseligen Haupt zuwandte. Sie schüttelte ihn an den Schultern, so daß der arme Junge ganz blaß wurde und Edgar nach ihren Händen griff, um ihn zu befreien. Im Nu hatte sie eine Hand losgerissen, die der erstaunte junge Mann nun in seinem eigenen Gesicht fühlte, und zwar so heftig, daß er es nicht für Scherz halten konnte. Er wich zurück, ich nahm Hareton in meine Arme, ging in die Küche und ließ die Verbindungstür offen, auch aus Neugierde, was aus dieser Schlacht werden würde.
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