Und ich sage es hier rückhaltlos: es sind nicht die Deutschen gewesen, die dem Nationalsozialismus am meisten den Weg bereitet haben, das haben die Franzosen, die Engländer getan. Seit 1918 hat es manche Regierung gegeben, die den besten Willen zu guter Zusammenarbeit hatte – man hat ihnen nie eine Chance gegeben. Immer wieder hat man vergessen, daß sie nicht nur die Vollzieher fremder Gewaltmaßnahmen, sondern auch die Vertreter eines verelendeten, verhungerten Volkes waren, das sie liebten! Sie haben uns in den Abgrund, in die Hölle gestoßen, in der wir heute leben!
Ja, ich bin geblieben und mit mir mancher andere. Wir haben uns gegenseitig Mut gemacht, und wir sind etwas in Deutschland geworden, es sei ohne alle Überheblichkeit, nein, mit aller Bescheidenheit sei es gesagt: wir sind das Salz geblieben, es ist nicht alles dumpf und dumm geworden. Es ließ sich ja nicht vermeiden, daß es bekannt wurde in meiner Gegend, daß ich ein schwarzes Schaf war, in meinem Hause ist nie »Heil Hitler« gesagt worden, und für solche Dinge schärften sich die Ohren der Leute in Deutschland mit den Jahren merkwürdig. Mancher hat mit mir geredet, wie ihm um’s Herz war, das gab uns gegenseitig Kraft, weiter auszuhalten. Wir haben nichts so Lächerliches getan wie Verschwörungen zu schmieden und Putsche anzuzetteln, was man in völliger Verkennung der ernsten Lage im Ausland immer von uns erwartet hat. Wir waren nämlich keine Selbstmörder, deren Tod niemandem genutzt hätte. Aber wir waren das Salz der Erde – und wenn nun das Salz dumm wird, womit soll man’s salzen?
Ich will hier, obwohl es eigentlich gar nicht an diese Stelle gehört, eine kleine Geschichte erzählen, die ich in meinen ersten Jahren der Machtergreifung erlebte, und die vielleicht einen kleinen Begriff davon gibt, wie die Atmosphäre meines Hauses Gleichgesinnte sofort aus ihrem sonst ängstlich gewahrten Schweigen hervorlockte. Eines Tages kam zu uns aus Berlin ein Monteur, um irgendeine Maschine zu reparieren. Er war ein richtiger Berliner, helle genug, und er hatte sofort erfaßt, in was für ein Haus er gekommen war. Bei Tisch – wir essen immer alle gemeinsam – taute er immer mehr auf und gab nun folgende ergötzliche und lehrreiche Geschichte zum Besten, aus der man ersehen kann, daß es in Deutschland auch in der schwersten Zeit aufrechte, unerschütterliche Männer gegeben hat (und geben wird), in allen Berufen und in allen Ständen. Also dieser Monteur erzählt im unverfälschten Berlinisch: »Also, da klingelt det an meine Tür, und als ick uffmache, steht da doch eener von die Bettler des Kanzlers vor mir, mit ’ne Liste in die Flosse. ›Ick komm von’t WHW‹, sagt der Mann, ›und det is nu mächtig uffjefallen, det Sie noch nie ’n Beitrag zu det große Opferwerk von det deutsche Volk jejeben haben. Det Winterhilfswerk nämlich …‹ Und nu red’t er los; ick laß ihn sabbeln, und wie er fertig is, sare ick zu ihm: ›Männecken, sare ick, sparen Se Ihre Puste, ick gebe doch nischt!‹
›Ja‹, sagt er da, ›wenn Sie aber jetzt wieder nischt jeben, trotzdem ick Ihnen persönlich besucht habe, dann muß ick uff diese Hausliste eenen Kreis hinter Ihren Namen machen, und det kann doch sehr unanjehme Foljen for Ihnen haben.‹
›Männecken‹, sare ich wieder, ›wat Sie for geometrische Figuren hinter meenem Namen malen, det is mir völlig schnurz, ick gebe doch nischt!‹
›Mann!‹ drängelt er nu. ›Seien Se doch nich so, stürzen Se sich doch nich mit wissenden Oojen in den Abgrund! Sie jeben mir ’nen Fuffzjer, und ick mache keenen Kreis – klappt der Laden gleich!‹
›Det denken Sie!‹ sare ick. ›Aber een Fuffzjer, det is een janzet Brot, und een Brot, det zählt schon bei mir: ick habe nämlich fünf Kinder.‹
›Wat!‹ ruft der Kerl janz begeistert. ›Sie haben fünf Kinder? Da haben Sie ja janz im Sinne unseres Führers jehandelt.‹
›Jawoll!‹ sare ich, ›bloß, ick mache Ihnen dadruff aufmerksam: all diese Kinder sind vor der Machtergreifung gemacht worden!‹
›Mann‹, sagt er, ›Sie werden ooch im Leben kein juter Nationalsozialist!‹
›Sie haben’s erfaßt, Männecken!‹ antworte ich ihm. ›Ick werde nich mal ’n schlechter Nationalsozialist!‹«
Ich muß es gestehen, diese kleine Geschichte hat einen bleibenden Eindruck auf mich gemacht, und das Wort vom schlechten Nationalsozialisten, der man auch nicht werden soll, hat mir in mancher Lage der kommenden Tage geholfen.
Und wenn ich mich heute frage, ob ich recht oder falsch gehandelt habe, daß ich in Deutschland geblieben bin, so sage ich noch heute: »Ich habe recht gehandelt!« Ich bin wahrhaftig nicht, wie man mir auch vorgeworfen hat, aus Angst um meinen Besitz oder aus Feigheit hier geblieben. Im Auslande hätte ich mehr und leichter Geld verdienen können, hätte ich sicherer gelebt. Hier habe ich unendlich viel Schweres erlebt, viele Stunden habe ich in Berlin im Bombenkeller gesessen, habe die Fenster rot werden sehen und habe, schlicht deutsch gesagt, oft richtig Angst gehabt. Mein Besitz ist jede Stunde bedroht, für meine Bücher wird seit einem Jahr kein Papier bewilligt – und ich schreibe diese Zeilen unter der Drohung des Stranges im festen Hause in Strelitz, in dem mich die Güte des Oberstaatsanwaltes als »gemeingefährlichen Geisteskranken« untergebracht hat, im September 1944. Alle zehn Minuten etwa kommt ein Wachtmeister in meine Zelle, sieht neugierig auf mein Gekritzel und fragt mich, was ich schreibe? Ich sage: »Eine Geschichte für Kinder« und schreibe weiter. Ich verscheuche jeden Gedanken an das, was aus mir wird, wenn jemand diese Zeilen liest. Ich muß sie schreiben. Ich ahne das nahe Ende des Krieges, und vorher noch will ich niedergeschrieben haben, was ich erlebte: nach dem Kriege werden’s Hunderte tun. Nein, lieber jetzt – wenn auch unter Lebensgefahr. Ich hause mit vierundachtzig größtenteils völlig geisteskranken Männern zusammen, die fast alle als Mörder, Diebe oder Sittlichkeitsverbrecher sich strafbar gemacht haben. Aber selbst unter diesen Umständen sage ich: »Ich habe recht getan, in Deutschland zu bleiben. Ich bin ein Deutscher und lieber will ich mit diesem unselig-seligen Volk untergehen, als in der Fremde falsches Glück genießen!«
Ich kehre zu Rowohlt und mir und zu den noch so ahnungslosen Tagen des Januar 1933 zurück. Ja, wir waren arg kompromittiert, und manchmal gestanden wir uns das ein. Aber wir beruhigten uns immer wieder mit dem törichten Satz: »So schlimm wird es schon nicht kommen – jedenfalls für uns nicht.« Wir schwankten haltlos zwischen äußerstem Leichtsinn und einer behutsamen Vorsicht. Eben noch hatte Rowohlt seiner Frau den neuesten Witz über Göring erzählt, und schon brüllte er sie zornerfüllt an, weil sie denselben Witz meiner Frau erzählt hatte. Ob sie das ganze Haus ruinieren wolle? Ob sie alle in ein Konzentrationslager bringen wolle? Ob sie denn ganz wahnsinnig und von allen guten Geistern verlassen sei?! Und dann ging dieser selbe Rowohlt hin und leistete sich das folgende Stückchen: Seine Frau war nämlich eigentlich die viel Vorsichtigere, und da sie gut wußte, daß ihr Hausstand in ihrer dortigen Gegend nicht gerade den besten nationalsozialistischen Ruf genoß, achtete sie darauf, jedermann besonders korrekt mit dem »Deutschen Gruß«, mit »Heil Hitler« zu grüßen. Neben ihr ging dann ihr kleines, wohl vierjähriges Töchterchen, nur »Baby« genannt und grüßte ebenso korrekt wie die Mutter.
Der gute Vater aber, der Rowohlt, der immer voll von Einfällen steckte und der gar zu gerne seiner Frau einen Streich spielte, nahm sich die Baby beiseite, und richtete sie ab und dressierte sie, und als die Mutter das nächste Mal mit ihr auf der Straße ging und brav mit »Heil Hitler« grüßte, hob Baby die linke Faust und sagte mit ihrem hellen Stimmchen: »Rot Front! Ein Arsch ist blond!« Ach, was hat das der Mutter für Tränen, für Verzweiflungsausbrüche gekostet, um dem Kind diesen wirklich nicht ganz zeitgemäßen Gruß wieder abzugewöhnen! Rowohlt aber, der Überängstliche, der Vorsichtige, lachte nur dazu; das Vergnügen über den ausgezeichneten Witz überwog bei weitem die Furcht vor der wirklich großen Gefahr. Denn schon der Gruß »Rot Front« bedeutete mindestens KZ, wahrscheinlich noch sehr viel Schlimmeres.
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