Als hätte sie ihre Gedanken gehört – was eigentlich gar nicht so unwahrscheinlich war, denn ein transzendentes Wesen hatte eine Verbindung zu seinem magiebegabten Partner, welche über jegliche normale Wahrnehmung hinausging – schaute Nora auf und ihr Blick blieb an einem an die Wand gepinnten Foto hängen. Es war das einzige Foto in der ganzen Wohnung – Leelou erinnerte sich daran, wie Nora einmal versucht hatte, eines von ihnen beiden zu machen, doch Wesen wie Leelou ließen sich von Kameras unglücklicherweise nicht einfangen. Auf dem Foto war eine jüngere Nora zu sehen, die neben einem etwas größeren Jungen stand, der sehr attraktiv aussah und sympathisch in die Linse lächelte, während sie eher wirkte, als wäre sie gerne woanders.
Bevor Nora noch trauriger werden konnte, als sie schon war, miaute Leelou laut auf und sprang auf den Tisch, beinahe die Reste der Suppe verschüttend. Sie wischte der Hexe mit dem Schwanz durchs Gesicht und setzte sich dann mitten auf den Berg Ablehnungsschriftrollen, um ihrer Partnerin zu zeigen, was sie von diesen hielt.
Nora lachte tatsächlich. "Nah. Das einzig Gute, was mir meine sowas von nicht-überragenden Fähigkeiten eingebracht haben, bist du, Leelou." Leelou grinste, wie nur Katzen es können, und schnurrte, als sie sich hinfallen ließ und sich ausgiebig auf den Schriftrollen wälzte.
Jede Hexe und jeder Hexer, und sei er oder sie noch so schwach, hatte die Fähigkeit, die Geister der Natur zu beschwören – und zwar genau ein einziges Mal im Leben. Mit jeder magischen Seele, die die Welt betrat, kam auch ein magischer Geist zur Welt, der zu dieser gehörte. Genau darum ging es bei der Beschwörungszeremonie. Hörte der richtige Naturgeist den Ruf seiner Seele und folgte ihm, wurde das geboren, was Leelou war: ein magischer, 'transzendent' genannter Partner, der seinem Beschwörer ein Leben lang – zumindest in so gut wie jedem Fall – treu zur Seite stand und zudem auch seine ganz eigene Magie besaß. Je nach Macht des Magiebegabten formte sich der gerufene Geist anders, aber immer nahm er die Form irgendeines Tieres an.
Katzen waren verschrien. Da der Geist stets auch viele Eigenschaften des Tieres, dessen Gestalt er annahm, übernahm, waren Katzengeister eigenwillig, sturköpfig und dreist. Durch das unvorsichtige Verhalten von Partnern in Katzenform war bereits die Tarnung von so mancher Hexe in der Vergangenheit aufgeflogen – das Klischee, das unter den normalen Menschen so verbreitet war und demzufolge die Hexe aus dem Märchen stets eine Katze bei sich hatte, war nicht ganz unbegründet. Zudem ließen so schwer beeinflussbare Tiere wie Katzen einen Rückschluss auf die schwachen magischen Kräfte des Hexers oder der Hexe zu – was zwar keinen Rückschluss auf die eventuelle zukünftige Entwicklung oder die eigenen Kräfte des Geisterpartners zuließ, doch Vorurteile waren nun einmal Vorurteile und ließen sich nicht allzu leicht aus der Welt schaffen.
Nora hatte all ihre Kraft benutzt, um Leelou zu beschwören, und Leelou wusste, dass, so sehr Nora auch unter ihrer Situation und ihren schwachen Kräften litt, sie nie unzufrieden mit ihr gewesen war.
Eine Weile saß die Hexe noch am Tisch, blätterte in dem einen oder anderen Buch und versuchte sich an der Herstellung eines kleinen Talismanes, nur zur Übung, doch als das fehl schlug, stand sie schließlich auf.
"Ich kann mich nicht konzentrieren." Müde fuhr sie sich durch das blonde Haar und über die Augen, wobei sie ihren schwarzen Mascara noch etwas mehr verwischte. "Ich geh ins Bett. Kommst du?" Leelou lief ins Schlafzimmer, ein ebenfalls mit allerlei Sachen vollgestellter Raum, der gerade so Platz für ein schmales Bett ließ, und wärmte die Decke vor, indem sie sich darauf legte. Als Nora aus dem Bad kam, begrüßte sie sie erneut mit Schnurren. Es dauerte nicht lange, bis das Mädchen eingeschlafen war. Leelou begutachtete die Verletzungen in ihrem Gesicht und pustete leicht gegen die schlimmsten Kratzer. Ein wenig Heilungskraft hatte sie, doch es reichte momentan wahrscheinlich nur dazu, den natürlichen Prozess etwas zu beschleunigen. Das war auch besser so – Nora mochte es nicht sehr, wenn Leelou ihre Kräfte für sie 'verschwendete', hatte sie einmal gesagt, und so würde sie es nicht einmal bemerkten.
Vorsichtig stand die Katze schließlich auf und schlich vom Bett herunter. Sie brauchte einen kleinen Spaziergang, hatte sie beschlossen, und so schön die Dächer bei Tage waren – unübertroffen war der Streifzug bei Nacht unter dem Mondlicht. Und es versprach, eine klare Nacht zu werden.
Kapitel 2 – Hände wären von Vorteil
Das Fenster stand so gut wie immer offen, sogar im Winter, daher konnte Leelou ohne Lärm zu machen wieder hinaus. Die Luft war noch ein wenig warm vom Tag, begrüßte sie jedoch schon mit der Frische der Nacht, und als Leelou wieder weit oben auf einem Dachfirst saß, fühlte sie sich beinahe schwerelos.
"Hey, Leelou!" Natürlich blieben derartige Augenblicke nie ungestört, das musste eine Art Naturgesetz sein. Sie wandte ihren Kopf und schaute sich um. Ein Stückchen unter ihr auf den Ziegeln nahm gerade Poka Platz, ein transzendenter Fuchs, der Partner der Besitzerin des Geschäftes für magische Accessoires im Nachbarviertel. Es musste etwas befremdlich aussehen, ein Fuchs auf dem Dach, doch Geistertiere, wie sie es waren, hatten ihre Mittel und Wege, dahin zu kommen, wohin sie wollten, auch wenn ihr derzeitiger Körper vielleicht nicht danach aussah. Bei Nacht würde es ohnehin niemandem auffallen – tagsüber allerdings mussten sie ziemlich genau darauf achten, was sie taten und wie.
"Guten Abend." sagte Leelou verhalten. Sie mochte Poka nicht besonders.
„Naaa, einen produktiven Tag verbracht, Süße?“ Der Fuchs blinzelte sie an. „Oder wieder mit Nichtstun verbummelt?“ Er seufzte, doch es klang gekünstelt, so übertrieben, dass klar war, es war spöttisch gemeint. „Oder sag bloß, sie hat wieder einen Kessel angezündet? Dann wäre es immerhin nicht so langweilig...“ Er lachte leise. „Du bist verschwendet an diese Verliererin...“ Poka bauschte seinen ohnehin sehr buschigen Schwanz auf und schlang ihn um seine Beine, so dass es so aussah, als säße er auf einem recht haarigen Kissen. Leelou fand den Anblick etwas lächerlich, zumal er das jedes Mal tat, wenn er sie traf. Vielleicht dachte er, er würde so eindrucksvoller wirken.
„Nora ist keine Verliererin.“ sagte sie leise. Pokas Ohren zuckten und er rümpfte leicht die Nase. „Klar, du musst das sagen.“ Er schaute zum Himmel auf. Der Mond war eine perfekte Kreishälfte. „Naja. Immerhin kann man dir keine mangelnde Loyalität vorwerfen. Mal was anderes...“ Er warf ihr einen amüsierten Blick zu. „Gehst du, ähm, gehen deine Miss und du zur Ehrungsfeier?“ Leelou begann, sich etwas entnervt mit der linken Pfote die Schnurrhaare zu putzen. „Wieso fragt mich das jeder?!“ gab sie mit einer ihrem Gebaren entsprechenden Stimmlage zurück. Sie wusste allerdings recht genau, warum, und das nervte sie noch mehr. „Hm... vielleicht, weil-“ „Ja, ja, ist schon gut, Nora ist eine Versagerin und ich bin dumm und naiv, weil ich bei ihr bleibe.“ Leelou fauchte Poka an und sprang vom Dach.
Der Weg nach Hause kam ihr sehr kurz vor, weil sie so wütend war und in ihren Gedanken dem Fuchs eine Menge nicht besonders netter Dinge an den Hals wünschte. Ob er auch noch so überheblich sein würde, wenn sie ihm seine seidigen Fellhaare einzeln heraus zupfte? Ihre langen Sätze wurden langsam zu einem gemäßigten Lauf, bis sie auf dem Dach des Hauses ankam, in dem sich Noras und ihre Wohnung befand. Sie setzte sich kurz und atmete tief ein und aus. Im Nachhinein ärgerte sie sich darüber, überhaupt wegen Poka wütend geworden zu sein. Er machte sich eigentlich immer über Nora lustig – meistens ignorierte sie das einfach. Und die Sache mit dem brennenden Kessel war ein Unfall gewesen, der jedem hätte passieren können, dachte Leelou. Jedem... Anfänger, fügte sie dann mit einem Seufzen in Gedanken hinzu. Nora war stets so unsicher, daher fahrig und unorganisiert, so dass ihr jedes Mal aufs Neue die lächerlichsten Fehler unterliefen, wenn sie zu zaubern versuchte.
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