Mit einem weiten Satz saß sie auf dem Schreibtisch, geschickt gelandet zwischen einem wackeligen Bücherstapel und einem halb leeren Glas Wasser, und richtete den Blick auf die Tür. Leelou wartete. Ein Blick auf die Uhr bestätigte sie darin, dass sie pünktlich zu Hause gewesen war, höchstens ein paar Minuten zu spät. Sie begann, sich ein wenig zu putzen, was heute jedoch bei ihrem schneeweißen Fell nicht sonderlich nötig war, doch es war eine Katzenangewohnheit, sich zu putzen, wenn man nervös war (oder verärgert, oder belustigt, oder beschämt, also eigentlich in beinahe jeder Stimmungslage – kein Wunder, dass Katzen stets als reinlich bekannt waren), und sie besaß diese Angewohnheit nun einmal ebenfalls. Sie wartete noch ein bisschen länger. Nach einer Weile wechselte sie ihren Sitzplatz, machte es sich auf dem Sofa bequem, dann nach fünfzehn Minuten auf einem tiefen Regalbrett, etwas später sprang sie wieder auf den Tisch. Sie hasste es, zu warten.
Nach einer Stunde hörte sie endlich Schritte im Treppenhaus, und schließlich wurde die Tür aufgeschlossen. Leelou spürte sofort, dass etwas nicht stimmte, sprang vom Tisch und rannte dem Mädchen entgegen, welches soeben die Wohnung betrat. Nora ließ die Tür hinter sich zufallen und ging dann sofort in die Knie, eine Hand nach Leelou ausstreckend.
„Hey...“ murmelte sie, und Leelou entdeckte mit Schrecken einen tiefen Kratzer unter ihrem linken Auge. Noras dunkelblonde, rückenlange Haare waren zerzaust, aber nicht so wie kurz nach dem Aufstehen oder wenn sie versuchte, sich Locken zu drehen, sondern mehr, als wären sie durch einen Haufen Scherben geschleift worden.
Leelou schmiegte sich in Noras Handfläche und ließ sich dann von ihr auf den Arm nehmen und ins Wohnzimmer tragen. Im Gegensatz zu den meisten Hexen lebte Leelous Partnerin sehr einfach. Die Wohnung hatte zwei Zimmer und einen schmalen Flur, alles war vollgestellt mit Bücherregalen, die sich wiederum bogen unter der Last unzähliger schwerer Wälzer, Kistchen und Flaschen, diese waren gefüllt mit Flüssigkeiten oder Kräutern, je nachdem. Eine ganze Ansammlung von nutzlosen Artefakten, die ausprobiert und dann vergessen worden waren… kurzum, alles Mögliche, was eine Hexe brauchte. Oder doch eher, was andere Hexen nicht mehr brauchten und was Nora in der Hoffnung an sich genommen hatte, irgendwann einmal dafür Verwendung zu finden.
Leelou bemerkte noch ein paar Schürfwunden an ihren Händen und Armen, als sich Nora mit ihr auf die Couch setzte. "Na, wie war dein Tag?" fragte sie und strich ihr über den Kopf und den Rücken. Leelou schnurrte und stubste gegen Noras Gesicht. Die Hexe lächelte müde. "Das ist nichts. Keine Sorge, ich… ach, egal. Die Typen neulich, dieser Zirkel, die haben mir doch so ein Rezept gegeben und wollten dafür Weißpulver. Naja, das, was ich ihnen gegeben habe, war ihnen nicht genug und von zu schlechter Qualität und da waren sie eben sauer, als ich gesagt habe, dass ich kein anderes mehr habe." Leelou drückte sich an Noras Brust und maunzte leise. Sie wusste, dass Nora sie nicht direkt verstehen konnte, aber meistens waren zwischen ihnen Worte auch nicht notwendig. "Dann hab ich das Zeug, was ich ausliefern sollte, fallen lassen… Mein Chef war ziemlich angepisst." Ein Seufzen. "Also eigentlich alles wie immer. Ich hab Hunger." Damit schob Nora Leelou sanft von ihrem Schoß und stand auf, schlurfte in die kleine Küche und begann, nach einem Topf zu suchen. Leelou schaute ihr dabei zu. Ihre gelben Augen folgten jeder Bewegung.
Es dauerte ein wenig, bis Nora es geschafft hatte, aus den vorhandenen Lebensmitteln etwas Essbares herzustellen, doch schließlich setzte sie sich mit einem müden Schnaufen auf den Schreibtischstuhl, eine Schüssel Suppe in der Hand. Leelou hätte ihr so gerne geholfen, sowohl beim Kochen als auch beim Freiräumen der Tischplatte, um Platz für besagte Schüssel zu schaffen, doch mit vier Pfoten anstelle zweier Hände war das kompliziert – magisches Wesen hin oder her, der Körper blieb der einer Katze.
Ihr blieb also nichts anderes übrig, als wieder auf Noras Schoß zu springen und laut zu schnurren. Dabei stieß ihr Schwanz gegen einen Stapel Schriftrollen, der auf der Tischkante lag. Es raschelte leise, doch laut genug, dass Nora aufsah. "Ah." machte sie und seufzte. "Es war nicht mal eine einzige Einladung dabei. Alles gleich Absagen. Keine einzige Chance auf wenigstens eine kurze Prüfung oder so…" Leelou wusste, dass die Schriftrollen allesamt Antworten auf Noras Versuche waren, einem Zirkel beizutreten.
Jede Hexe und jeder Hexer entfaltete seine wahre Macht, ja, fand seine wahre Macht und seine Kräfte erst, wenn er in einem Zirkel aufgenommen wurde. Seit Jahrtausenden war das so; magisch Begabte erhielten den Zugang zu ihren vollen Fähigkeiten nur durch die Verbindung zu anderen ähnlich Begabten. Das hatte die Natur so vorgegeben – selbst wenn man es über die Zeit hätte ändern wollen, wäre das niemals möglich gewesen. Im Großen und Ganzen war das ein praktisches System. Jeder Teenager, der gerade entdeckt hatte, dass er Kerzen anzünden konnte, indem er nur daran dachte, wurde so von seinen Zirkelmitgliedern von Anfang an geleitet, bekam Unterstützung und Hilfe wann immer er sie brauchte und fand stets guten Rat. Überflieger wurden auf diese Art und Weise gleich von Anfang an beobachtet und es wurde dafür gesorgt, dass ihnen ihre Macht nicht zu Kopfe stieg, um ein Entgleisen zu vermeiden. Natürlich funktionierte all dies nicht immer perfekt… Marian, genannt 'Der Glanzvolle' war ein solcher Überflieger gewesen, der ganz schnell gemerkt hatte, dass seine Kräfte die aller seiner Zirkelschwestern und –brüder weit überragten. Da er zudem auch noch schlau war, hatte er dies geheim gehalten und niemandem gezeigt. Und da war er dann gewesen, der unbesiegbare Hexer, der seine ganz eigenen Vorstellungen davon gehabt hatte, wie die Welt zu laufen hatte…
Leelou dachte mit einem leichten Schauer an ihn – ein einziges Mal hatte sie diesen Mann gesehen, von weit weg…
Die Welt hatte selbstverständlich unverschämtes Glück gehabt, dass Seamus aufgetaucht war – auf seine Art ein genauso mächtiger Hexer wie Marian, nur so unendlich viel sanfter, voller Freundlichkeit und trotzdem mutig wie der weiße Ritter aus den Sagen der Menschen persönlich. Er war der perfekte Held gewesen, und war es auch immer noch. In einem explosiven Kampf hatte er Marian besiegt und die Welt gerettet – danach hatte er sogar noch die Kraft gehabt, für ein Foto zu lächeln, bevor er vor Entkräftung ohnmächtig geworden war.
Leelou stubste Noras Hand an, die aufgehört hatte, sie hinter den Ohren zu kraulen. "Wenn ich einen Zirkel hätte, wäre das alles viel einfacher." schnaubte diese und kam der Aufforderung nach. "Dann würden sich meine blöden Kräfte endlich zeigen und entfalten und erwachen oder wie auch immer und ich hätte einen Haufen Probleme weniger." Mit ihren grauen Augen, die Leelou so sehr mochte, schaute sie auf ihren Schoß hinunter. "Es würden ja sogar ein oder zwei Leute reichen, die mit mir einen gründen, im Notfall. Wäre mir egal… Aber wer will schon mit mir-" sie brach ab und malte gedankenverloren mit dem Zeigefinger Muster in Leelous Fell. "Weisst du… wenn ich sechsundzwanzig bin, ist es gelaufen. Danach können die Kräfte nicht mehr erwachen. Ich hab noch zwei Monate…"
Leelou miaute leise und erwiderte Noras Blick. Mit Vollendung des sechsundzwanzigsten Lebensjahres verlor eine Hexe nicht nur die Möglichkeit, ihre wirkliche Macht zu entfalten, sie verlor zudem auch die schwachen magischen Kräfte, über die sie bis dorthin verfügt hatte. In Noras Augen stand jedes Mal ein wenig mehr Verzweiflung, wenn sie auf den Kalender blickte.
Wenn Helden nur nicht immer so viel zu tun hätten – Nora könnte bestimmt einen gebrauchen, dachte Leelou.
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