
Meine Hypothese ist, dass die mit dem Beckenschiefstand verbundene Beinlängendifferenz dazu geführt hatte, dass sich der 1. und 2. Halswirbel verschoben, verdreht und blockiert hatten. Die Blockade der ersten beiden Halswirbel führte zu einer Irritation der Nerven des oberen Grenzstranges. Dadurch wurden auch das Ganglion cervicale superius und der Trigeminusnerv irritiert. Das wiederum beeinflusste die Steuerung der Durchblutung der Hirngefäße und löste Nitrostress und Schmerz aus. Da ich normalerweise 10 bis 20 Behandlungssitzungen auf verschiedenen Behandlungsebenen bis zur völligen Ausheilung der Migräne ansetze, ist der Therapieerfolg nicht immer so eindeutig auf eine Ursache zurückzuführen, wie in diesem Fall.
Fall 6: Flüssigkeitsmangel
Auf die folgende Migräneursache bin ich durch einen 45-jährigen Patienten gestoßen, der wegen Rückenschmerzen zu mir in Behandlung kam. Routinemäßig fragte ich nach, ob er auch an Kopfschmerz oder Migräne leide. Er hatte bis vor 15 Jahren Migräne gehabt. Seither nicht mehr. Auf meine Frage, wie er seine Migräne losgeworden sei, antwortete er, dass er gleich morgens nach dem Aufstehen einen halben Liter Wasser trinke. Diesen Tipp hätte ihm ein Freund gegeben und bei ihm habe es geholfen. Seither hatte er nie wieder Migräne.

Diesen Fall hatte ich bei einer meiner Patientinnen im Hinterkopf. Ich hatte die 31-jährige Betriebswirtin mit unauffälligen Laborwerten zehnmal osteopathisch und neuraltherapeutisch behandelt und dennoch traten bei ihr wöchentliche Migräneanfälle auf.

Die Patientin musste für drei Monate beruflich nach China reisen. Ich war etwas unglücklich über die Unterbrechung der Behandlung, da ich den Aufbaueffekt gefährdet sah. Wir vereinbarten, die Behandlung nach ihrer Rückkehr fortzusetzen. Ich gab ihr den Tipp, dass sie bei ihrem Gewicht von fünfzig Kilogramm darauf achten solle, mindestens zwei Liter Wasser über den Tag verteilt zu trinken. Einen halben Liter Wasser empfahl ich ihr gleich morgens nach dem Aufstehen zu sich zu nehmen. Nach den drei Monaten kam sie strahlend zum vereinbarten Termin und berichtete, dass sie den Ratschlag mit dem Wasser experimentell erprobt habe. Im ersten Monat habe sie sich manchmal daran gehalten und manchmal auch nicht. In dem von ihr geführten Migränetagebuch konnte sie feststellen, dass die Migräneanfälle ausschließlich an den Tagen auftraten, an denen sie wenig getrunken hatte. Daraufhin trank sie ab dem zweiten Monat konsequent jeden Tag nach Anweisung ausreichend Wasser. Seither habe sie keinerlei Spur von Migräne oder Kopfschmerz mehr gehabt. Nicht einmal bei Wetterwechsel, bei dem es sonst besonders schlimm gewesen sei.

Im Hirnstamm gibt es eine Messstation, die Alarm schlägt, wenn grundlegende, lebenswichtige Körperfunktionen in Gefahr sind. Fällt nun im Blut entweder der Flüssigkeitsspiegel, der Sauerstoffgehalt oder der Blutzuckerspiegel, so scheint dies bei Menschen, die entweder genetisch dafür prädisponiert sind oder deren Ursachenfass mit anderen Belastungen weitgehend gefüllt ist, eine Aktivierung des Migränegenerators auszulösen.
Fall 7: Stirnnarbe als Störfeld
In der Anfangszeit meiner Migränebehandlungen kam eine Mutter mit ihrem 10-jährigen Sohn in meine Praxis. Mindestens zweimal in der Woche musste der Junge wegen Migräneanfällen von der Schule nach Hause gehen. Das Ganze seit seinem Skateboard-Sturz vor sechs Monaten. Er war bei diesem Sturz auf die Stirn gefallen und hatte dort seither eine etwa 5 cm lange Narbe. Während der Schulferien hatte er regelmäßig bis zu sechs Wochen keine Migräne. Seine Mutter ging daher davon aus, dass der Schulstress wohl die Ursache für sein Leiden sei. Die Tatsache, dass die Migräne erstmals zwei Wochen nach dem Sturz auftrat, hielt sie für Zufall.

Mein Vorschlag, das Nächstliegende zu tun und das potentielle Narbenstörfeld neuraltherapeutisch durch Unterspritzen mit Procain zu entstören, fand bei der Mutter wenig Anklang. Zumal der Junge schon bei dem Gedanken an eine Spritze in die Stirn ängstlich das Gesicht verzog. Ich behandelte ihn mehrere Male osteopathisch und mit Laserakupunktur, doch weder die Häufigkeit noch die Intensität der Migräneattacken besserten sich. Jetzt gelang es mir die Familie zu überzeugen, dass es notwendig war, die Narbe zu entstören. Die Mutter meinte, es könne eigentlich nicht an der Narbe liegen, da diese ja auch in den Ferien da gewesen sei, er aber trotzdem in dieser Zeit keine Migräne hatte. Sie ließ sich dennoch auf den Versuch ein. Die Narbe bereitete ich mit einem schmerzlindernden Pflaster vor. Tapfer biss der Junge unter Tränen die Zähne zusammen, während ich die Narbe unterspritzte. Daraufhin war das Kind zwei Monate migränefrei. Nach einem erneuten Anfall wiederholten wir die Behandlung sofort noch einmal. Danach traten keine weiteren Anfälle mehr auf, wie mir die Mutter neun Monate später bestätigte. Das Narbenstörfeld war ausgelöscht.

Was war nun die Erklärung dafür, dass der Junge während der Schulferien, trotz des Narbenstörfeldes, keine Migräne hatte? Die Erklärung liefert hier wieder das Fassmodell. Wenn das Fass der sich addierenden Ursachen überzulaufen droht, entlädt es sich in einer Migräneattacke. Solange das Fass aber nur halb voll ist, passiert gar nichts. Der Körper besitzt eine wunderbare Kompensationsfähigkeit. Ist das Fass aber ganz voll, genügt schon eine Kleinigkeit, wie z. B. ein Wetterwechsel, um es zum Überlaufen zu bringen. Beim Entleeren des Fasses spielt es nun keine Rolle ob wir oben oder unten Volumen abzapfen. Wenn es halb leer ist, kompensiert der Körper die Belastung wieder problemlos alleine. Der Schulstress füllte offensichtlich schon vor dem Sturz die eine Hälfte des Fasses. Das hinzukommende Narbenstörfeld auf der Stirn im Bereich des 1. Astes des Trigeminusnervs, der ohnehin eine wichtige Rolle in der Migräneentstehung hat, füllte die andere Hälfte. In den Ferien reichte das Narbenstörfeld alleine nicht aus, das Fass zu füllen, weshalb trotz der Narbe keine Migräne auftrat. Dies ist auch die Erklärung dafür, dass manchmal unterschiedliche Therapeuten mit unterschiedlichen Therapieansätzen zum gleichen Ergebnis kommen können.
Die 27-jährige, sehr zierliche Sekretärin, ist mir aus der Anfangszeit meiner neuraltherapeutischen Behandlungen im Gedächtnis geblieben. Sie litt seit ihrem 14. Lebensjahr an Migräne. Die Attacken kamen in etwa wöchentlichem Abstand, dauerten zwei Tage und gingen mit Übelkeit, Erbrechen und Lichtempfindlichkeit einher. Sie litt ein- bis zweimal jährlich wiederkehrend an Mandelentzündungen. Berufliche Belastung bestand durch eine Mobbingsituation am Arbeitsplatz. An Medikamenten hatten ihr anfänglich Triptane geholfen. Mittlerweile machte es keinen Unterschied mehr, ob sie die Medikamente einnahm oder nicht.
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