Hinrich klopfte an die Tür und fragte: „Wollen wir alle heute Abend ins Blockhaus gehen?“ Jacob und ich nickten und Vater beendete die Runde. Ich brauchte jetzt nach dem guten Essen dringend frische Luft und Bewegung. Wir richteten uns ein bisschen her und gingen zu Fuß zum Blockhaus in den Hafen. Unsere Eltern wollten zum Jungfernstieg in ein Kaffeehaus. Große aufgetürmte Wolken, aus dem Westen kommend, versteckten die Abendsonne. Am Hafen stritten sich die Möwen um die Fischabfälle, die im Hafenbecken schwammen. Die Möwen eskortieren die Fischerboote schon, wenn sie in den Hafen einliefen, um die Fänge zu löschen. Auch dann fallen für die Möwen Fischreste ab, da bereits der Fang an Bord sortiert wurde. Es waren wieder malende Künstler auf der Brookbrücke , die die Abendstimmung des Hafens auffangen wollten. Wir passierten die Kehrwiederstrasse und sahen gegenüber liegend die Konstanze. Kapitän Broder hatte eine Bordwache eingesetzt, da das Schiff beladen und reisefertig war. Zwei Matrosen gingen an Deck auf und ab. Die Bastionen Georgius und Hermannus , die den Abschluss der Kehrwiederspitze bildeten, waren heute von Soldaten der Stadtwache besetzt. Sie patrouillierten auf dem Wall und beobachteten die Elbe. Hinrich fragte einen Soldaten warum die Wachen verstärkt wurden.
„Es rücken große dänische Verbände auf Altona zu!“, antwortete der Wachsoldat. Josephine erschrak lauthals: „Was bedeutet das?“
„Machen sie sich keine Sorgen, junge Frau. Das will nicht unbedingt etwas bedeuten. Es ist eine reine Vorsichtsmaßnahme, dass wir hier den Wall verstärken“, ergänzte der Soldat. Wir gingen über den Holzdamm zum Blockhaus. Viele Neugierige drängten sich auf der Aussichtsplattform und blockierten so die Tische. Es dauerte eine ganze Weile, bis wir einen Tisch ergattern konnten. Eine nachdenkliche Stimmung unter uns veranlasste mich, zügig einen Krug Wein zu bestellen. Aus dem Inneren des Blockhauses ertönte Musik und die Leute erinnerten sich daran, warum sie her gekommen waren. Konstanze erklärte Jacob das gelegentliche Säbelrasseln des dänischen Königs. Er war als Franzose mit den regionalen Problemen nicht so sehr vertraut. Dann aber besannen wir uns auf den Abschied, da wir morgen losfahren und tranken unseren Wein. Jacob erzählte von den Gasthäusern in La Rochelle. Dabei wurde deutlich, dass die beiden Hafenstädte viel gemeinsam hatten. Beide Städte brachten es durch Handel und Seeschifffahrt im Mittelalter zu Wohlstand und beide Städte pflegten alte Traditionen und Handelsbräuche. Erster französischer Hafen des Kolonialverkehrs war Le Havre an der Seine Mündung. Seine Nähe zu Paris und des direkten Transportweges der Seine, machen den Hafen von Le Havre zum Zentrum des Warenumschlages. La Rochelle besetzte da nur ein paar Nischen. Hamburg war für die Deutschen der wichtigste Hafen, selbst für Preußen im Überseehandel. Nachdem wir die Heimatstädte verglichen hatten, gingen wir ins Innere des Blockhauses zum Tanz. Josephine traf ein paar Freunde im Blockhaus , wie so oft, wenn wir mit ihr unterwegs waren. Sie verabschiedete sich aber früh aus unserer Runde und Jacob wurde auch plötzlich sehr müde. Hinrich, Konstanze, Lisa und ich blieben noch bis in die Nacht. Das Lokal schloss und wir machten uns auf den Heimweg. An der Brookbrücke trennten wir uns von Hinrich und Konstanze. Lisa und ich gingen zum Schaarmarkt. Lisa war traurig und wir standen noch 1 Stunde eng umschlungen vor ihrer Haustür. Ich wäre heute Nacht gerne bei ihr geblieben. Also blieb ich mit ihr vor der Tür stehen, bis die Vögel piepten und uns daran erinnerte, dass der neue Tag keinen Aufschub duldete. Die Folgen des Weins schlugen um in Müdigkeit. Es wurde Zeit für mich zu gehen. Lisa ließ mich schweren Herzens gehen. Die große Verabschiedung ist schon in 5 Stunden im Hafen. Lisa wollte um 9.00 Uhr am Schiff sein.
Nach einer sehr kurzen Nacht fand ich mich eine Stunde vor Abfahrt zum Frühstück ein. Es waren alle, außer Josephine und Jacob, anwesend. Sie waren nicht zum Schlafen zuhause gewesen! Meine Mutter sagte dies in einem verärgerten Ton. In dem Moment kamen die Beiden zur Tür herein.
„Josephine, wo warst du gewesen?“, schoss es aus Mutter raus.
„Wir waren nicht müde, Mutter und deshalb sind wir spazieren gegangen.“
Darauf viel Mutter nichts mehr ein und wir anderen hielten uns da besser heraus. Josephine huschte geschwind in ihre Kammer, während Jacob es sich am Tisch gemütlich machte. Er aß in aller Ruhe und sagte kein Wort. Was sollte er auch schon sagen. Tante Nathalie sprach ihn auf Französisch an, schnellsprechend und tuschelnd habe ich davon kein Wort verstanden. Vater und Onkel Clemens machten ein verkniffenes Gesicht. Überdies glaube ich nicht, dass sie vom Spaziergang der Beiden begeistert waren. Ich verließ vorzeitig den Tisch, um die letzten Sachen einzupacken. Tante Nathalie und Onkel Clemens wollten erst heute Mittag fahren, so dass wir nicht alle auf einmal abreisten. Wir sprachen über den letzten Abend und über die Stadtwachen, die verstärkt gestern auftraten. Am Morgen hatte sich die Lage aber wieder entspannt. Josephine gesellte sich zu uns, sie hatte sich ein wenig hergerichtet und umgezogen. Jacob hatte die Prozedur in 5 Minuten erledigt. Das Personal fuhr die Kutschen vor und die Seesäcke wurden verstaut. Wir verabschiedeten uns von Maria und den anderen und die ganze Familie bestieg die Kutschen. Ich schaute mir die Katharinenstraße noch mal ganz genau an. Das war meine Heimat, dachte ich, die reich verzierten holländischen Hausgiebel der Kaufmannshäuser mit den vielen Böden und Speichern, werden in meiner Erinnerung haften bleiben. Daran werde ich mich, was auch geschieht, ewig erinnern.
Josephine war anzumerken, dass sie ziemlich übernächtigt war und sich zusammen nehmen musste. Einen Teil von ihr, hatte sie zuhause gelassen. Sie erfüllte ihre Kock`sche Pflicht, wie es von ihr erwartet wurde. Meine Schwester wäre im Bett besser aufgehoben gewesen. Sie hatte vor unserem Abschiedsmahl stundenlang in der Küche gestanden. Onkel Clemens sprach mit Jacob über deren Rückkehr nach La Rochelle.
„Am Ende des Oktobers fährt turnusgemäß unser Schiff nach Hamburg. Auf der Rückfahrt nachhause solltest du möglichst an Bord sein. Wenn der Winter früh herein bricht, ist es das letzte Schiff in diesem Jahr, welches dich nach La Rochelle heimbringen würde. Zur Geburt im Dezember möchten wir dich auf jeden Fall dabei haben!“, sagte er und Jacob erwiderte:
„Dann ist es mir hier in nördlichen Breiten auch viel zu kalt, obwohl ich mich in Hamburg ziemlich wohl fühle!“
Dabei schaute er flüchtig zu Josephine, die ihm genau zugehört hatte. Zum ersten Mal wirkte Jacob nervös. Der fehlende Schlaf schadete seiner umgänglichen Art aber nicht. Ich spürte in mir auch eine gewisse Unruhe. Schließlich würden Jacobs und mein Leben in einer Stunde ganz anders sein. Mit Spannung erwarteten wir, ob die Kunst des Navigierens bald von uns beherrscht werden wird. Es kam immer mal vor, dass Walfänger ohne Fang nachhause fahren mussten. Hoffentlich blieb uns diese Schmach erspart. Da wäre auch die verkürzte Reisezeit kein Trost für mich, obgleich die Walfischer im März fahren. Die Verzögerung beim Bau der Konstanze ließ eine Abfahrt im Frühjahr nicht zu. Das sollte insgesamt nicht darüber hinweg täuschen, dass wir in erster Linie Kaufleute waren und dort auch unsere Zukunft sahen. Der Besuch der Navigationsschule sollte trotzdem nicht umsonst gewesen sein und diesen Anspruch stellten Hinrich, Jacob und ich gleichermaßen.
Mein Vater fing an, sich von unserer Unruhe anstecken zu lassen. Er kratzte sich ununterbrochen am grauen Bart und seine Füße wollten nicht still stehen. Er grübelte offensichtlich über die Frage nach: Sind alle wichtigen Dinge an Bord? Habe ich etwas vergessen? Mein Vater war schon immer ein offenes Buch, trotz seines erstaunlichen Verhandlungsgeschicks mit Geschäftspartnern. Die Kutschen erreichten den Hafen. Die Fuhrwerke der Kaufleute sorgten am Neuen Kran wieder für Gedränge. Wir mussten daran vorbei, um zu unserem Liegeplatz zu kommen. Onkel Clemens stieg aus und veranlasste die Fuhrleute, die Strasse zumindest durchgängig zu machen. Er wusste genau, wie man sich mit diesem Menschenschlag arrangiert. Wir konnten unsere Fahrt fortsetzen. Hinrich schaute ein wenig wehmütig auf die Elbe. Er hatte die ganze Vorarbeit auf der Schiffswerft geleistet und meinen Vater konsequent vertreten, wenn es notwendig wurde. Einige Details an Bord waren ohne Zweifel seine Ideen, die zu Verbesserungen am Schiff führten. Der Erfolg der Reise, wird auch sein Erfolg sein.
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