Mit einem Lächeln auf den Lippen nahm Mom den Topf und reichte ihn mir. »Nimm sie dir später mit nach oben.«
»Danke.« Für einen kurzen Moment sah ich nachdenklich auf die Blume, bevor ich erneut den Blickkontakt zu meiner Mutter suchte. »Ich habe vorhin ein bisschen mit Steven gesprochen.«
»Was denkst du über ihn, Liebling?«
»Ich mag ihn. Aber das ist nicht das, was mir Kopfzerbrechen bereitet.« Ich atmete tief durch. »Er hat etwas sehr Wichtiges zu mir gesagt. Er meinte, ich dürfte keine Angst davor haben, Fragen zu stellen, wenn ich mich erinnern will.«
Sofort froren die Gesichtszüge meiner Mutter ein und sie wandte sich leicht von mir ab. »Ich habe ihm gesagt, dass ich dein Tempo akzeptiere und dich nicht unter Druck setzen werde.«
»Das weiß ich zu schätzen, Mom, aber ich denke, es ist an der Zeit, dass ich versuche, mich zu erinnern. Ich würde gern nach Edinburgh fahren und mich in meiner Wohnung umsehen.«
»Lia, das halte ich für keine gute Idee.«
»Warum nicht?«
»Weil ich dich ganz sicher nicht allein fahren lasse!«, erhob meine Mutter die Stimme.
»Das ist kein Grund.« Ich sah kurz zu Boden und funkelte sie wütend an. »Okay, dann beantworte mir ein paar Fragen. Habe ich allein in der Wohnung gelebt? Was habe ich beruflich gemacht, oder habe ich studiert? Hatte ich einen Freund, vielleicht sogar mehr? Wo ist Amber? Noch in Glasgow? Warum hat sie sich nicht gemeldet, seit ich aufgewacht bin? Haben wir uns in den letzten Jahren regelmäßig gesehen?« Ich holte Luft und stellte weiter Fragen, weil es nicht den Anschein machte, als wollte meine Mutter mir die Antworten geben, nach denen ich suchte. »Wie ist es zu dem Unfall gekommen? Welche Art von Unfall war es überhaupt? War ich allein, oder war jemand bei mir? Hätte ich sterben können? Warum bin ich in Inverness?«
»Emilia, hör auf!«, schrie Mom und stellte sich hinter ihren Tresen.
»Nein, warum? Das geht mir durch den Kopf, seit ich aufgewacht bin. Ich habe mich bisher nur nicht getraut, all diese Dinge auszusprechen.« Tränen stiegen in meinen Augen auf. »Es tut mir leid, Mom, aber im Moment bist du offensichtlich die Einzige, die mir helfen kann.«
»Es ist noch nicht der richtige Zeitpunkt, verstehst du das nicht?« Meine Mutter stützte sich auf dem Tresen ab und ließ den Kopf hängen.
»Aber wann ist der?«, fragte ich und das Klingeln des kleinen Türglöckchens legte sich über meine Frage. Ich drehte mich um und mein verschwommener Blick traf auf Blake McLaughlin. Ich schluckte schwer und sah zurück zu meiner Mutter, die nur den Kopf schüttelte. Als mir klar wurde, dass ich keine Antworten erhalten würde, drehte ich mich um, schob mich an dem jungen Mann vorbei und verschwand mit meiner blauen Orchidee aus dem Laden.
Kapitel 4
Als ich das kleine Pub am Ende der Straße entdeckte, das vor etwa einer halben Stunde geöffnet hatte, verschwand ich sofort darin. Die dunkle, gemütliche Atmosphäre verschluckte mich, und ich nahm an dem dunklen Holztresen Platz - meine blaue Orchidee stellte ich darauf. Sicher gab ich ein mitleidiges Bild ab.
»Was darf es sein?«, fragte der ältere Mann hinter dem Tresen und ich sah ihm in die Augen.
»Irgendetwas, das mich die letzten Minuten ziemlich schnell vergessen lässt.«
Zwei Sekunden später stand ein Glas mit bernsteinfarbener Flüssigkeit vor mir. »Der beste Single Malt, den Sie in der Gegend bekommen können, Miss«, erklärte der Mann lächelnd. »Ein paar Doppelte, und Ihre Probleme werden unwichtig.« Er zwinkerte mir zu und ich nickte dankbar. Ich nahm das Glas und trank es in einem Zug leer. Der Whisky brannte sich meine Kehle hinab und ich atmete tief durch. »Mehr?«, fragte der Mann und ich nickte.
»Du weißt, dass Alkohol keine Lösung ist, um über einen Streit hinwegzukommen?« Erschrocken sah ich zur Seite und ein Paar moosgrüner Augen ruhte auf mir. Blake McLaughlin nahm neben mir Platz. »Ich nehme das Gleiche wie sie«, bestellte er.
»Eine Lösung vielleicht nicht, aber der nette Herr hat mir versichert, dass ich danach alles vergesse, was in den letzten Minuten geschehen ist. Auf ein paar Erinnerungen mehr oder weniger kommt es nicht an, hm?« Ich leerte mein Glas erneut und ließ es schnell wieder füllen. Blakes Blick war nachdenklich und fragend.
»Was meinst du damit, auf ein paar Erinnerungen mehr oder weniger kommt es nicht an?« Er sprach mich nicht in der Höflichkeitsform an, was in Betracht der Nähe, der wir gestern ausgesetzt waren, seltsam gewesen wäre. Und doch hinterließ diese Vertrautheit ein merkwürdiges Gefühl.
»Spielt das eine Rolle?« Blake drehte sich leicht zu mir und sein Blick wurde durchdringender. Ich erwiderte ihn, kam aber kaum gegen seine Intensität an. Mein Herz schlug sofort einen Takt zu schnell, und ich blickte auf mein Glas. »Was machst du eigentlich hier?«
»Ich wollte sehen, wie es dir geht.« Nun hob ich meinen Blick doch wieder und sah ihn skeptisch an.
»Wenn das deine Masche ist - armen, hilflosen Frauen vor dem Krankenhaus aufzulauern, sie anschließend nach Hause zu fahren, um herauszufinden, wo sie wohnen, und den besorgten Retter zu spielen - dann hast du mit mir absolut keinen Hauptgewinn gezogen.«
Er lachte leise und trank seinen Whisky aus. »Dass ich nicht früher auf die Idee gekommen bin«, bemerkte er ironisch. »Ich habe gestern einen Freund im Krankenhaus besucht, und ob du es glaubst oder nicht, aber ich habe mir Sorgen um dich gemacht. Offensichtlich zu Recht, schließlich sitzt du nach einem Streit mit deiner Mutter im Pub und betrinkst dich. Was die Orchidee zu bedeuten hat, will ich lieber nicht wissen.«
»Es geht mir ganz fantastisch.« Ich zog die Augenbrauen in die Luft und seufzte leise.
»Weißt du, dass nur Menschen, die keinen Ansprechpartner haben, sich nach einem Streit in einem Pub betrinken, weil sie hoffen, der Barkeeper hört ihnen zu?«
Es war leicht zu durchschauen, dass Blake versuchte, mich aus der Reserve zu locken. Ich war mir nur nicht sicher, ob seine Provokation dazu dienen sollte, dass ich ihm eine Ansage machte oder lauthals begann zu lachen. Auf jeden Fall würde ich ihm beides nicht liefern, so viel stand fest.
»Natürlich habe ich nach über fünf Jahren Koma und weiteren zwei Jahren Gedächtnisverlust keinen Ansprechpartner. Meine beste Freundin hat mich, seitdem ich wach bin, nicht einmal besucht. Ich habe keinen Schimmer, ob ich andere Freunde oder einen Partner habe, und meine Mutter gibt mir keine Antworten. Okay, ich habe in den letzten Wochen auch keine Fragen gestellt ... Also Mister ›Ich rette arme, hilflose Frauen vor dem Krankenhaus‹, mit wem soll ich sprechen?« Jetzt schenkte ich ihm doch ein Lächeln, weil ich nicht wollte, dass meine Worte verbittert rüberkamen. Ja, vielleicht war ich ein bisschen verbittert, aber ich war vermutlich auch selbst schuld. Keine Fragen bedeuteten immerhin keine Antworten.
»Entschuldige, das habe ich nicht gewusst.«
»Woher auch«, seufzte ich und hob die Schultern leicht an.
»Das erklärt, warum du nicht besonders viel Wert auf deine Erinnerungen legst.« Blakes Lippen verzogen sich zu einem Schmunzeln und ich kam nicht umhin zu bemerken, wie attraktiv ihn das machte.
»Am besten gebe ich mich meinem neuen Leben hin und ignoriere, dass ich irgendwo in Edinburgh eine Wohnung habe ...« Ein weiteres Glas Whisky brannte sich meine Kehle hinab.
»Ist das der Grund, warum du mit deiner Mutter gestritten hast?«
»Ja. Sie sagt, es sei nicht der richtige Zeitpunkt.«
»Und denkst du das ebenfalls?«
Ich suchte seinen Blick, der mich so ernst ansah, dass ich nichts anderes konnte, als loszulachen.
»Du bist beruflich nicht zufällig Therapeut?«, scherzte ich und er schüttelte den Kopf.
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