»Alles in Ordnung, es geht mir gut... wirklich«, sagte er krampfhaft lächelnd. Er hatte die Nacht schon nicht gut geschlafen und das feuchte, heiße Klima in Malaysia sowie die lange Wartezeit zwischen den Flügen taten ihr Übriges. Nachdem er sein Essen eingenommen hatte, das ihm schon kurz nach dem Start serviert worden war, bekam er seinen ‚toten Punkt‘ und schlief ein. ,Es wird wohl noch eine Weile vergehen, bis ich mein Erlebnis ganz verarbeitet habe‘, wurde ihm im selben Moment bewusst.
Derek war über Asien Richtung Osten geflogen und war bereits in London angekommen. Michael flog auf der Westroute über den Pazifik und landete mit zehn minütiger Verspätung in New York. Es war vereinbart, dass er sich im Anschluss an ihren Trip eine fünftägige Auszeit gönnte. Eine große Feier zum siebzigjährigen Bestehen von ‚Burk & Cannon‘, der Anwaltskanzlei seines Vaters, stand an. Dazu natürlich jede Menge Gäste. Während des Anflugs auf den J.F. Kennedy Flughafen flogen die Piloten eine Kurve, so dass man durch den wolkenlosen Himmel die Skyline von Manhattan sehen konnte. Das Fehlen der Twin Towers trübte die Freude über den Anblick jedesmal erheblich. Beim Verlassen des Terminals war es stets dasselbe Ritual. Immer kam jemand auf ihn zu und bot ihm an, ihn in die Stadt oder sonstwohin zu fahren. Mit dem Privatwagen natürlich und für wenig Geld. Zuerst war es ein Schwarzer, dann ein Weißer und später noch zwei Typen mit Rastalocken, vermutlich aus der Karibik. »Ich möchte ein Taxi nehmen, haben Sie vielen Dank«, wiegelte er mit fester Stimme ab. Er war kein blauäugiger Tourist, sondern Amerikaner und wusste, worauf er sich einlassen konnte. Es war wie eine Erlösung, als er die Glastür aufstieß. Das Klima stand in krassem Widerspruch zu Malaysias feuchter Hitze. Es war trocken und die Nachmittagsluft hatte sich schon ein wenig abgekühlt. Das Taxi an erster Position war offiziell registriert. Erschöpft ließ er sich auf die Rücksitzbank des Fords fallen. »Ich muss zunächst auf die Fifth Avenue, in Höhe 49. Straße. Fahren Sie mich bitte durch Brooklyn über die Williamsburg Bridge nach Downtown Manhattan und von da aus die First Avenue, Richtung Norden. Dort warten Sie dann einen Moment. Die Fahrt geht anschließend weiter nach Long Island, einverstanden?«
Der Fahrer, ein Litauer, wie er ihm später noch offenbaren würde, freute sich aufrichtig, da sich das lange Warten für ihn diesmal gelohnt hatte. ‚Burk & Cannon’ war eine der größten und erfolgreichsten Anwaltskanzleien des Landes. Sein Urgroßvater, Jatzek Burkowsky, wanderte, aus der Gegend um Krakau stammend, vor hundert Jahren nach Amerika aus. Er verdiente sein Geld zunächst in den Rinderschlachthöfen von Chicago und zog dann während der Wirtschaftskrise in den zwanziger Jahren an die Ostküste, weil ihm dort ein Bekannter einen Job verschafft hatte. Sein Großvater erhielt in den dreißiger Jahren ein Stipendium für ein Jurastudium und gründete später mit einem seiner Kommilitonen die Kanzlei. Sein Partner Scott Cannon war es, der ihn damals dazu gedrängt hatte, seinen Namen auf ‚Burk’ zu vereinfachen. Sein Vater wiederum trat zur Freude seines Großvaters in seine Fußstapfen und stieg nach seinem Jurastudium als Juniorpartner ein. Gern hätten sie es gesehen, wenn auch Michael die Familientradition fortgesetzt und sich dazu gesellt hätte. Er hatte bereits Entgegenkommen signalisiert, indem er ein Jurastudium an einer Eliteuniversität absolviert hat. Aber das Ganze lag ihm nicht. Seine Leistungen waren eher mittelmäßig, außerdem konnte er sich nicht vorstellen, jemals als Anwalt zu arbeiten. Insgeheim hasste er Anwälte. Ihre Winkelzüge und Strategien hatten für ihn bestenfalls etwas mit Recht, jedoch nichts mit Gerechtigkeit zu tun. Er kannte das Geschäft von Haus auf und mehr als ein Geschäft war es für ihn auch nicht.
Es gab kein Schild am Eingang. Nichts deutete von außen darauf hin, das hier auf zwei Stockwerke verteilt die fünftgrößte Kanzlei der Stadt mit ihren sechzig Mitarbeitern untergebracht war. Michael wusste, welchen Klingelknopf er zu betätigen hatte und nach einiger Zeit schaltete jemand die Sprechanlage ein.
»Hey, hier ist Michael, Michael Burk«, sagte er, worauf die Eingangstür sofort summte und aufsprang.
»Michael, ich habe Sie lange nicht mehr gesehen«, sagte eine ebenso hellhäutige wie hagere Dame mit rot getöntem Haar zur Begrüßung, als er oben ankam. »Leben sie noch immer in Europa?« Es war Dorothee, eine langjährige Mitarbeiterin aus dem Büro, mit ihrer riesigen schwarzumrandeten Brille, die stets den Eindruck vermittelte, als würde sie das schmale Gesicht, das ihr sicheren Halt gewährte, erdrücken. Und von der er dachte, dass sie längst in Rente gegangen sei. »Wie geht es Ihnen?«
»Danke, es geht mir blendend«, antwortete er zuvorkommend.
Was hätte er sonst sagen sollen? Dass das Gegenteil der Fall war, weil er beim Tauchen in Südostasien zufällig eine Ansammlung von Toten entdeckt hat, gefesselt in einem Schiffsrumpf auf dem Grund des Ozeans?
»Sie sind alle zum Dinner. Heute ist Mittwoch«, erklärte sie ihm. Mittwochsnachmittags ging der gesamte Stab traditionsgemäß zum Dinner in eines der umliegenden Restaurants. Das hatte er vergessen. Er hatte versprochen, dass er kommen würde. Nur wann genau, hatte er nicht gesagt. Deshalb hatte sich auch niemand auf ihn eingestellt. Gut, dass er den Taxifahrer angewiesen hatte zu warten. Er wollte sich sowieso nicht lange in der Kanzlei aufhalten. Er hatte lediglich gehofft, flüchtig ein paar alte Gesichter zu erspähen. Er war erschöpft und hatte entschieden, sich nun auf direktem Weg nach Hause fahren zu lassen. Der schlechte Straßenbelag, über den das Yellow Cap mit seinen einfachen Blattfedern rumpelte, erinnerten ihn daran, dass er nicht in Europa, sondern in seiner Heimat New York gelandet war. Dennoch genoss er die Fahrt durch Queens, weiter in Richtung Osten, während er dabei gebannt aus dem Fenster sah. Er liebte London. Aber New York war für ihn noch immer die großartigste Stadt der Welt. Hier war er geboren worden, aufgewachsen und hier hatte er seine Jugend verbracht. Er war der Spross reicher Eltern, die ihm eine behütete Kindheit ermöglicht hatten. Weit weg von den sozialen Brennpunkten und fern ab der Kriminalität auf den Straßen. An den Schulen, die er besuchte hatte, gab es keine Gangs und auch keine Gewalt. Es wurde dunkel, als sie sich dem Familiensitz näherten. Trotzdem konnte er sehen, dass der weiße Zaun, der das Anwesen umgab, frisch gestrichen war. »Dort ist es. Halten Sie bitte rechts vor dem Tor«, sagte er durch die Trennscheibe. In den dreißiger Jahren erbaut und weitestgehend aus massivem Holz gefertigt, gehörte es zu den traditionellen Landhäusern, die in den Long Island Counties zu finden waren. Nur die äußeren Enden mit ihren großen Kaminen waren aus Stein gemauert. Die Wände waren zur Außenseite mit weißen Schindeln bedeckt, von denen sich moosgrüne Fensterläden abhoben. Wie die meisten Anwesen in der Gegend lag es weit zurückversetzt, umgeben von mächtigen Bäumen, deren herabfallendes Laub in den Herbstmonaten eine romantische Atmosphäre schuf. Auf einem Anbau war ein Wintergarten errichtet, von wo aus ein guter Ausblick auf das gesamte Grundstück und darüber hinaus gegeben war. Drinnen brannte Licht und es dauerte nicht lange, bis seine Mutter und seine Schwester, die seine Ankunft bemerkt hatten, auf das Taxi zugeeilt kamen. »Wie schön, dass du gekommen bist, mein Junge, wir alle haben uns schon so auf dich gefreut«, sagte seine Mutter freudig erregt. »Und wie gut du aussiehst, so braungebrannt, wie du bist.«
»Oh, ja, ein richtiger Mädchentyp«, ergänzte seine Schwester ironisch aus dem Hinterhalt. Er schloss sie beide in die Arme, drückte sie abwechselnd so fest er konnte.
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