»Bist du verrückt geworden. Wo hast du so lange gesteckt. Hast du dort unten einen Tresor gefunden und ihn nicht aufbekommen?«, schallte es ihm entgegen. Charly, ihr malaysischer Bootsführer, verharrte stillschweigend im hinteren Teil des Bootes und tat so, als hätte er am Bordmotor zu tun. Er gehörte zur Tauchstation und hatte die Aufgabe, sie täglich in ihr Gebiet zu bringen. Sein malaysischer Name war extrem lang und vergleichsweise schwierig auszusprechen. Deshalb entschied er vor ein paar Jahren, sich Charlie zu nennen, womit die Touristen gut umgehen konnten. Viele Amerikaner fühlten sich dadurch sogar belustigt. Sie erinnerten sich, dass man den Feind einst im Vietnamkrieg
‚Charlie’ genannte hatte. Nur er wusste es nicht. Tatsächlich hatte Michael jegliches Zeitgefühl verloren. Er hatte nicht die geringste Ahnung, wie lange er sich dort unten aufgehalten hatte. Bevor Derek seine Standpauke fortsetzen konnte, fiel er ihm ins Wort.
»Sachte, Derek, sachte. Ich hatte meine Gründe.«
»Was für Gründe sind es diesmal? Du hast immer irgendwelche Gründe. In Wirklichkeit aber bist du...?«
»Hör auf damit, verdammt noch mal! Hör auf, mich anzuschreien. Hör lieber zu!«, unterbrach er ihn, mit den Händen herumfuchtelnd. »Dort unten in dem Schiff sind Leichen ...Tote, verstehst du?« Seine Augen leuchteten intensiv, während er sich gehetzt die Ausrüstung vom Leib streifte. »Der Kahn ist ein schwimmendes Grab.«
»Also doch«, sagte Derek. »Ich hatte es geahnt, wegen den Rettungsbooten. Es musste ein paar von ihnen erwischt haben. Kein schöner Anblick, was?«, entgegnete er ihm flapsig.
»Nein, nein, verdammt, nicht so, es sind keine Seeleute. Zumindest glaube ich das nicht. Sie sind mit ihren Rücken aneinandergefesselt. Und außerdem sind auch Frauen dabei und sogar … ein Kind.« Er malmte mit den Kiefern und sah verkrampft an ihm vorbei. Derek wurde die Ernsthaftigkeit der Situation bewusst, und wie nahe Michael die Sache ging. »Okay, okay, ...sollen wir
...ich meine, wenn es so ist, wäre es vielleicht gut, wenn ich sie mir auch mal ansehen würde«, lenkte er ein.
»Nein, nein, nicht nötig. Tu dir das nicht an. Es reicht, wenn ich sie gesehen habe. Ich habe sie zur Sicherheit gefilmt«.
»Was, du hast alles auf Band?«
»Sicher, wie sollen wir denn sonst beweisen, dass es sie dort unten gibt?«
Michael atmete tief durch und raufte sich seine nassen Haare. »Ich erzähle dir alles im Hotel, okay? Lass uns endlich von hier verschwinden. Ich bin total erledigt. Mir reicht’s für heute.«
Dann ließ er sich im hinteren Teil des Bootes nieder und wandte ihnen den Rücken zu. Derek verstand, dass er einiges durchgemacht haben muss und schwieg, bis sie wieder an Land waren. Auch Charlie, der es sich nie nehmen ließ, während der Fahrt den Joker zu spielen, indem er die neuesten Witze in schlechtestem Englisch präsentierte, zog es diesmal vor, innezuhalten. Eine knappe Stunde brauchten sie noch, bis sie ihre Insel und die Tauchstation erreicht hatten, um die Neoprenanzüge sowie den Rest ihrer Ausrüstung abzuliefern. Michael war froh, dass es zuende war. Die Lust am Tauchen war ihm nach diesem Erlebnis erst einmal vergangen und er wollte nur noch schlafen. Schlafen und vergessen.
Tioman Pahang ist die größte Insel des Meeresparks Pahang. Neben den Touristen, die die Insel das ganze Jahr hindurch aufsuchen, leben hier ausschließlich Fischer. Die Unterkünfte für Touristen liegen auf der Westhälfte der Insel. Dort findet man auch die beliebtesten Tauchziele und außerdem ist die See dort ruhiger. Derek beharrte auf Tioman als Ausgangspunkt für ihre Suchaktion, weil sie täglich von Kuala Lumpur aus angeflogen wird. Motorboote brauchen eine Stunde, der Katamaran etwa doppelt so lange. Ihr Resort mit seinen aus Tropenholz gefertigten runden Hütten lag am Ende einer Landzunge. Die Unterkünfte waren einigermaßen komfortabel und auf ein weitläufiges Areal verteilt. Bis zur nächsten Tauchstation waren es nur fünf Minuten zu Fuß. Es war erst Vormittag. Trotzdem war das Thermometer schon auf sechsunddreißig Grad geklettert. Die Klimaanlagen in ihren Hütten sorgten für ausreichend Kühlung. Derek war bereits seit sieben Uhr auf den Beinen, hatte üppig gefrühstückt und ein paar Formalitäten für ihre Rückflüge erledigt. Er war körperlich in Bestform und brauchte nur wenig Schlaf. Seit er die Navy verlassen hatte, trainierte er regelmäßig mit Gewichten und joggte, um sich fit zu halten.
Es war gegen ein Uhr nachts, als das Telefon klingelte. Steven stand auf dem Balkon seiner Wohnung und blickte hinunter auf den nächtlichen Verkehr der ‚Bayswater Road’. Wenn der Hyde Park keine Bäume gehabt hätte, hätte er mit einem Fernglas bis hinüber zur Kensington Road schauen und sehen können, ob in seiner alten Wohnung noch Licht brannte. Als seine Frau erfuhr, dass er bisexuell ist und hinter ihrem Rücken mit Männern verkehrte, reichte sie die Scheidung ein. Daraufhin musste er ausziehen. Seitdem lebt er allein, während sie mit der gemeinsamen Tochter in der Wohnung verblieben ist. Die Einsamkeit aber schmerzte ihn nur anfangs. Mittlerweile wusste er die Vorteile und Freiheiten zu schätzen, die das Single-Leben mit sich bringt. Nun konnte er essen und trinken, soviel er schaffte, wetten soviel er wollte und wenn er jetzt Lust verspürte, jemanden für eine Nacht mit nach Hause zu nehmen, konnte er auch dies tun, ohne sich rechtfertigen zu müssen. Die restlichen Mieter wohnten wie er fast ausnahmslos alleine und schätzten die Anonymität. Leute wie Steven, die es sich leisten konnten, die hohen Mieten in Londons Innenstadt zu zahlen und nur für ihren Job lebten. Gelegentlich begegnete man sich im Aufzug, grüßte höflich und das war’s dann auch. Er hatte einen langen, harten Tag hinter sich. Mittwochs war Redaktionsschluss. Dann waren vierzehn Stunden, die er hinter dem Schreibtisch zubringen musste keine Seltenheit. Entsprechend lange dauerte es jedes Mal, bis er wieder abschalten konnte. Im Hintergrund lief noch immer der Fernseher. Nachdem er die Sportnachrichten gesehen und sich wieder einmal über einen verlorenen Wetteinsatz geärgert hatte, stellte er den Ton ab und mixte sich einen Drink, den er anschließend mit auf den Balkon nahm. Wenn er doch nur einmal über seinen Schatten springen könnte und für einen der Londoner Fußballclubs wetten würde. Aber er liebte nun einmal Manchester. Immer wieder setzte er hohe Beträge auf Manchester und lag nun erneut, zum dritten Mal in Folge, daneben. »Derek, weißt du, wie spät wir es hier haben?«
»Sicher doch. Aber du willst mir doch nicht erzählen, dass du schon im Bett liegst. Heute ist Mittwoch, zumindest noch bei dir.«
»Okay, schieß los! Ihr habt sie endlich... nein, lass mich raten. Ihr habt gleich zwei von den Dingern gefunden, bis zum Rand mit Porzellan und Edelsteinen gefüllt, richtig?«
»Klar, schön wär’s. Nein, wir haben nichts. Wir haben das ganze Gebiet abgegrast. Sie liegt dort nicht, ganz sicher. Aber wir haben etwas anderes gefunden.«
»Etwas anderes? Hoffentlich etwas, was wir brauchen können.«
»Kommt drauf an. Wir haben einen Frachter gefunden.«
»Was für einen?«, fragte Steven spontan.
»Einen von heute, einen modernen«, antwortete Derek.
»Hervorragend«, kam es von Steven abfällig.
»Steven, das Ding ist …voller Leichen.«
»Na und! Beabsichtigt Ihr jetzt eine Reportage über tote Seeleute zu machen?«, entgegnete er Derek noch immer missmutig.
»Nein, Steven. Es sind keine Seeleute.«
»Was dann? Ich meine, woher wollt ihr wissen, wie... ?«
»Glaubst du, dass sich Matrosen aneinander fesseln, wenn ihr Schiff untergeht?«
»Nein, das entspricht nicht gerade ihrer Mentalität«, sagte Steven mit verzerrtem Gesicht, nachdem er sich mit einem einzigen Zug seinen Drink einverleibt hatte.
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