»Zu Befehl, Sir. Wie sie wollen. Und was sagt Steven zu der Sache?« Er wusste, dass Derek längst mit ihm telefoniert hatte, weil er es jeden Morgen tat.
»Steven ist sofort drauf angesprungen. Er plant wohl, eine Recherche darüber anzustellen und die Sache als Story zu verwerten. Du kennst ihn ja.«
‚Divers Ground’ gehört zu einem Konsortium unterschiedlichster Magazine. Die Büros liegen zum Teil im selben Gebäude. Man kennt sich untereinander und tauscht regelmäßig Informationen aus. Auch wenn die Hintergründe am Ende keine Story für ihr Tauchsportmagazin ergeben sollten, fände man vielleicht bei einem der anderen Blätter Verwendung dafür.
»Also gehen wir nicht direkt zur Polizei?«
»Nein. Dafür ist es noch zu früh. Wenn wir die Fakten zusammen haben und wissen was passiert ist, schalten wir Scotland Yard ein. Solange sollten wir den Mund halten.«
Sie ließen die letzten Minuten verstreichen, indem sie sich noch einmal ausstreckten und entspannten, während sie das Martyrium ihrer Langstreckenflüge näherrücken sahen. Es verging einige Zeit, bis wieder gesprochen wurde.
»Was meinst du? Glaubst du, dass man sie umgebracht hat?«
Derek ließ sich Zeit mit der Antwort. »Nun, zumindest glaube ich, dass sie nicht vorgehabt haben zu sterben. Entscheidend ist, dass sie aneinander gefesselt waren. Niemand tut so etwas selber oder lässt es freiwillig über sich ergehen. Ich glaube, dass man sie dazu gezwungen hat. Kann auch sein, dass man gar nicht vorhatte, sie zu töten. Vielleicht hatte man sie nur einfach ihrem Schicksal überlassen, als das Schiff sank.«
»Was ebenfalls einem Verbrechen gleichkommt.«
»So ist es. Wenn ich jemanden fessele, verhindere ich, dass er sich frei bewegen und sich im Notfall selber helfen kann. Weiter heißt das, dass ich dafür verantwortlich bin, wenn ihm etwas zustößt.«
»Also ist in jedem Fall jemand schuld an ihrem Tod.«
»Natürlich, zwangsläufig. Und ich glaube auch, dass sie nicht zur Mannschaft gehört haben. Ich habe noch nie von Frauen unter asiatischen Seeleuten gehört. Nur die Russen und andere ehemalige Ostblockstaaten führen auch weibliche Besatzungsmitglieder. Und wie wir ja wissen, war da noch... dieses Kind.« Derek atmete tief durch und stand nun auf, um sich etwas zu trinken zu holen. Michael spürte, dass auch er den Anblick des toten Jungen nicht ohne weiteres verdrängen konnte. Es war kurz vor zwölf, als sie ins Freie traten. »Oh, mein Gott!«, stieß Michael hervor. Schnell verbarg er seine Augen hinter einer Sonnenbrille. Er hatte den Eindruck, als würde die helle Mittagssonne in den hintersten Winkel seines vom Restalkohol gepeinigten Gehirns vordringen. Derek marschierte ein paar Meter vor ihm zwischen turmhohen Palmen auf einem mit Hölzern ausgelegten Weg entlang, in Richtung Hauptportal. Sein Gesicht war leicht angespannt. Er glaubte, sich noch eine Weile um Michael bemühen zu müssen und trug deshalb ihr gesamtes Gepäck am Körper. Als sie die Hotellobby betraten, begegneten sie noch einmal Mandy Wong. Mandy war eine äußerst attraktive Asiatin mit amerikanischem Pass und arbeitete an der Rezeption. Sie studierte Philosophie und Fremdsprachen an der Universität San Diego. Während der Semesterferien besuchte sie regelmäßig ihre wohlhabende Verwandtschaft in Hongkong, die auch Miteigentümer des Resorts war. Sie war bildhübsch und hatte schulterlanges Haar. Dazu war sie perfekt gebaut, was niemand übersehen konnte. Und Michael wäre der letzte gewesen, der es übersehen hätte. Als Hotelangestellte war es ihr verboten, sich mit den Gästen einzulassen. Doch für ihn war sie bereit, die Vorschriften zu ignorieren. Mit seinen schulterlangen blonden Locken, seinen azurblauen Augen und seiner leicht gebräunter Haut vermochte er stets einen bleibenden Eindruck beim weiblichen Geschlecht zu hinterlassen. Wegen seiner athletischen Figur und den oftmals vom Salzwasser verfilzten Haaren hielten sie ihn meistens für einen Profisurfer. So auch Mandy. Er musste überhaupt nichts tun. Wie die meisten kam sie von alleine auf ihn zu. Dass auch er Amerikaner war, machte die Sache noch leichter. Nach sieben Uhr hatte sie frei und schlich sich in seine Hütte. Beiden war jedoch klar, dass es nur ein Abenteuer sein würde. Mehr wollten sie nicht und jetzt war es eben vorbei. »Hat ihnen der Aufenthalt in unserem Resort gefallen, Mr. Burk?«, fragte Mandy mit einem breiten Lächeln und reckte ihren Kopf schnippig nach oben.
»Natürlich«, entgegnete Michael, »das Personal hier war besonders zuvorkommend.« Dabei zog er die Augenbrauen hoch und lächelte zurück. Sie sahen sich noch einmal an, während er auscheckte und noch ein paar Papiere unterschrieb. Ihr fiel sein verquollenes Gesicht auf, woraufhin sie sich ein Schmunzeln nicht verkneifen konnte. »Wir wünschen Ihnen einen angenehmen Rückflug und hoffen, dass sie wieder unser Resort wählen, wenn sie hier Urlaub machen.« Ein paar offene Worte zum Abschied waren wegen der anderen Gäste, die mit ihm in der Reihe standen nicht möglich. Aber was sie sich hätten sagen wollen, verstanden sie auch durch ihre Blicke. Derek sah aus einiger Entfernung zu. Er hatte vor kurzem geheiratet und flüchtige Affären waren nicht sein Ding. Er hatte ohnehin nicht das Glück bei Frauen wie Michael, trotzdem empfand er keinerlei Neid. Beim Verlassen der Lounge packte er Michael fest am Arm. »Und ...hast du den Reis noch einmal so richtig zum Kochen gebracht? Ich meine, hast du es der kleinen Lotusblüte noch einmal richtig besorgt?« stichelte er von der Seite.
»Nein, sie hat es mir besorgt. Hast du etwa meine Hilferufe nicht gehört?«
»Ich hätte es wissen müssen. Es ist nur, weißt du, ich stelle mir gerade vor, wie du mit dieser kleinen, verdorbenen Pekingente die Drachenstellung...«
Michael musste zum ersten Mal an diesem Tag lachen. »Warum halten sie nicht einfach die Klappe, Lieutenant Coleman?« Ein kleiner weißer Bus mit offenen Fenstern stand draußen vor dem Hotel. Er hatte auf sie gewartet, Um sie zusammen mit anderen Touristen, die noch in den umliegenden Resorts abgeholt werden mussten, zum Flughafen zu bringen. Die Maschine würde sie zuerst nach Kuala Lumpur bringen. Und nach zwei Stunden Aufenthalt würde es weitergehen nach London und New York.
Die Frau, die vor ihm stand, war Asiatin. Sie schrie und flehte ihn an, ihr zu helfen. Ihr Gesicht war verweint und wie alle im Raum fürchtete sie, dass sie gleich sterben würde. Doch er konnte nicht. Er war genau wie sie mit dem Rücken an jemanden gefesselt und hatte schreckliche Angst. Sein Herz raste, sein Puls war extrem hoch und er glaubte, seinen Urin nicht mehr halten zu können. Alle im Raum waren aneinander gefesselt und durchlitten das Gleiche. Im Hintergrund ertönte die Stimme eines Kindes, das nach seinen Eltern rief. Zwei Gefesselte strauchelten in ihrer Verzweiflung unkoordiniert im Raum herum, rannten mal gegen diese Wand, mal gegen jene Wand. Andere fluchten laut in ihrer Panik. Sie verfluchten die, die ihnen das antaten. Dann ging das Licht aus und was jetzt noch zu vernehmen war, waren ihre Schreie. Schreie von Menschen, die nun gegen ihren Willen sterben sollten. Sie konnten sich nicht in ihr Schicksal fügen, weil sie es nicht verdient hatten. Im Getöse der einströmenden Wassermassen gingen ihre Schreie unter. Das Wasser war kalt. Es war Meerwasser, das von allen Seiten schäumend und spritzend anstieg und sie schon nach kurzer Zeit überflutete. Er atmete immer schneller, immer kräftiger, als könne er das, was nun folgen würde, dadurch abwenden. Noch einmal holte er tief Luft und hoffte, dass es schnell gehen würde. Eigentlich hätte er besser keinen Atemzug mehr getätigt, dann wäre es noch schneller gegangen. Das aber brachte er nicht fertig. Seine Reflexe waren dafür bestimmt zu überleben und nicht zu sterben. Gleich würde die Luft in seinen Lungen verbraucht sein und der Todeskampf begänne. Immer wieder würde sich sein Brustkorb ruckartig heben, Wasser statt Atemluft in die Lungen saugen und wieder ausstoßen. Bis sein Körper den Kampf gegen den qualvoll einsetzenden Tod aufgeben müsste und sein Bewusstsein für immer erlösche. Vielleicht würde er sein ganzes Leben noch einmal in einem dreidimensionalen Zeitraffer vor seinem geistigen Auge ablaufen sehen, wie es viele Menschen berichten, die dem Tod schon einmal nahe gewesen sind. Plötzlich spürte er, wie eine fremde Hand seinen Unterarm umschlang und ihn schüttelte. »Sie träumen, ....Sie haben einen Traum«, sagte eine sanfte, verständnisvolle Stimme und erlöste ihn so von seinem Qualen. Die vor ihm liegenden Sitzreihen sowie ein paar leer gegessene Plastikschalen samt Essbesteck auf seiner Ablage waren das, was Michael zuerst erblickte, als er die Augen wieder auftat. Er atmete tief ein und streckte seinen Rücken durch, während die Stewardess ihm half, den Sitz wieder aufrechtzustellen. Ihr war aufgefallen, dass er eingeschlafen war, aber keinesfalls gut geschlafen hatte. Er stöhnte ein paar Mal und drehte dabei ruckartig seinen Kopf hin und her. Als sie auf ihn aufmerksam wurde, entschied sie, ihn zu wecken, falls es ihm nicht bald besser gehen würde. »Ich danke Ihnen, haben Sie vielen Dank«, erwiderte er, während er mit einer Serviette seine feuchte Stirn abwischte. Neben ihm auf der anderen Seite des Ganges saß eine dicke Chinesin mit einer Baseballmütze, die ihn durch ihre Lesebrille mitleidvoll ansah.
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