1 ...6 7 8 10 11 12 ...17 Selbstzweifel machten den Einstieg für ihn noch problematischer. Ähnliche Situationen kannte Michael nur zu gut.
Auch dies war eine seiner Erinnerungen, quälende Stunden vor dem Spiegel des Ballettsaals, mit einer vagen Idee im Kopf einen Anfang suchend: Immer wieder Musik hören, Bewegungsansätze ausprobieren, wieder verwerfen, Skizzen entwerfen, in seinen Notizen blättern, weitere hinzufügen, bis die Zeit oft zu knapp wurde, und sich noch immer kein Anfang formen wollte. Aber er kannte eben auch das Gefühl, wenn es lief. Endlich den Anfang gefunden, sprudelten die Ideen dann nur so aus ihm heraus und er war oft nicht in der Lage, sie schnell genug festzuhalten, um nicht die Hälfte wieder zu vergessen.
Ulla kam ihm erneut in den Sinn. Die mollige Ulla, damals erfüllt von der Idee, Ballerina zu werden. Mit aller Kraft wollte sie es erreichen.
Eine mittelmäßige klassische Tänzerin, deren Körperbau es ihr schon unmöglich machte, wollte unbedingt Ballerina werden.
Ein Glück, dass er ihre wahren Fähigkeiten erkannt hatte, ihr damals helfen konnte und ihr die richtige Richtung wies.
Jetzt war sie wirklich auf dem besten Weg zum Musicalstar!
Die Tänzer, welche er verloren hatte, - so auch Ulla, - und die vielen anderen, die gesamte Gruppe, er hatte sie geliebt, er hatte seine Tänzer geliebt!
Vielleicht war er selber zu sehr Tänzer geblieben, selbst als Ballettdirektor war er noch Tänzer geblieben.
Es gab da etwas, das er nie gänzlich ablegen konnte.
Langsam begann er zu schreiben:
Tänzer - wirbelnde Blätter im Wind,
von Bäumen deren Wurzeln in den Himmel ragen,
- entwurzelte Körper,
glücklich, wenn schwerelos.
Tanz - auch tragisch, weil augenblicklich,
ohne Wiederkehr,
entgleitend im schönsten Moment.
Die Zeit der Tänzer
Verbannte Gefühle, Bilder und Erinnerungen drängten in sein Bewusstsein. Mit äußerster Willenskraft kämpfte Michael um Worte, bis seine Hände immer hastiger über die Tasten flogen und er fast atemlos in seine eigene Vergangenheit eintauchte:
1 Die Zeit der Tänzer
I/1
Wie ein Marktweib vom nahen Gemüsemarkt scheint die knarrende Türe im Hintergrund Menschliches über ihre Benutzer zu tratschen. Verbindung und Durchgang ist sie, die Hintertüre, doch Haupteingang für Eingeweihte und Stammgäste, auch für mich. Es ist fünf Minuten vor zwölf. Dero, eine alternde Tunte, begrüßt mich freudig. Er tätschelt dabei zärtlich meinen Hintern, während feuchte Lippen meine Wangen streifen, fünf Minuten vor zwölf Uhr, kurz vor Mitternacht.
Einige Jünglinge bewegen sich wie Operettendiven, schweben in Dunst und Nebel.
Ich setze mich auf die Wandbank am Stammtisch des Bajass, fünf Minuten vor zwölf, nach einem heißen Septemberabend.
Eine anstrengende Vorstellung liegt hinter mir.
So aufgewühlt wie ich war, wollte ich keineswegs nach Hause. Noch in der Garderobe, geschafft und down, entschied ich mich, auf einen Sprung hierher zu kommen.
Es ist sehr warm im Lokal. Die Hitze des Tages klammert sich fest.
Kurz und heftig bricht Schweiß aus all meinen Poren.
Mir ist, als spürte ich den vollen weichen Busen eines Mädchens in der rechten Hand. Mein Körper spannt sich.
Der weiche Busen wird zur harten Hüfte meiner Partnerin, als die dunkle, knorrige Stimme Evas ein Bier ankündigt.
Gierig trinke ich das frisch Gezapfte in großen Zügen bis zur Neige. Es wirkt befreiend.
Ein stechender Schmerz in der rechten Schulter bringt mir die Hüfte zurück. Ich hebe meine Partnerin in einen unendlichen Flug. Ohne high zu sein, ein Horrortraum. - Angst vor dem Sturz?
Mich schaudert - es hätte wirklich sein können. Meine Schulter ist noch immer kaputt.
Kalter Schweiß auf der heißen Stirn und ein einzelner Tropfen rinnt langsam am Rückgrat entlang.
Dero setzt sich freudestrahlend an meinen Tisch. Obwohl mich seine Begrüßung wie jedes Mal anwidert, mag ich ihn.
„Ach, was bist du heute so schön! - Hast du gut getanzt?“ Deros Frage lässt mir das schmerzverzerrte Gesicht meiner Partnerin erscheinen. Ich zwinge mich, ihm zu antworten:
„Ich glaube ja, das Publikum war sehr gut.“
‚... Ist ja nichts passiert.‘
Und wieder spüre ich diesen warmen, vollen Busen. Warum nur müssen die meisten Tänzerinnen dünn, hart und unerotisch sein. Manchmal glaube ich, die Homosexuellen unter meinen Kollegen verstehen zu können.
Dero erzählt leicht beduselt und erregt irgendwelche Geschichten - es ist schwer, sich auf ihn zu konzentrieren.
Früher war er einer der besten Tänzer, ein Star, später Ballettmeister, Choreograph, Trainingsleiter. Tänzer pilgerten zu ihm, wie gläubige Moslems nach Mekka. Er hat die ganzen großartigen, alten Ballette im Kopf.
- Nein, jetzt leider nicht mehr! - Doch, auch wenn es jetzt nur noch Teile sind, ist dies fast genial.
Heute ist er der Clown, die Tunte über die man lacht, der Alkoholiker, der sich, die Kneipe als Bühne, seinen lebensnotwendigen Schnaps verdient. Auch ich spendiere ihm einen. Dero ist nicht mehr zu retten.
Scheißberuf! Dero ist kaputt, zerbrochen. Kaputt an Leib und Seele. Verwöhnt vom Erfolg, fiel er von ganz oben auf die Straße. Der Sturz in die Tiefe schien endlos, der Alkohol tat das übrige. Kaputt - einer von denen, die den Absprung nicht schafften!
‚ - Fürchte ich, dass es auch mir passieren könnte? - Bin ich ebenso gefährdet?‘ Emotionen reißen mich mit. Hilflos aggressiv wälze ich meine Wut auf die Gäste dieses speziellen Lokals ab: - Schwule, selbst Außenseiter der Gesellschaft, die allerdings genau wie die, von ihnen ja eigentlich verachtete Gesellschaft reagieren, die den nächst Schwächeren und Älteren verstoßen, lächerlich machen und zum Clown werden lassen.
Der Schnaps, den ich mit Dero trinke, tut gut. Ich werde etwas ruhiger und kann ihm endlich zuhören.
Er hat Krach mit der Wirtin des Bajass, einer im Grunde herzlichen und gutmütigen Frau, die für ihn das letzte Hemd hergeben würde.
Geduldig versuche ich, ihn zu beruhigen. Dero lebt fast umsonst hier. Wo sollte er denn hin? Er hat niemanden, außerdem ist er volltrunken wirklich schwer zu ertragen.
Während er linkisch mein Knie streichelt, geht von neuem die Phantasie mit mir durch. Was ist bloß los mit mir?
Unsere Vorstellung hat mich die letzte Kraft gekostet, ich bin nicht mehr der Jüngste, - und die blöde Schulter. Ich müsste etwas essen, der Schnaps und das Bier auf leeren Magen verursachen nach dieser Anstrengung einen erschreckenden Zustand, als wäre hochprozentiger Alkohol direkt in meine Blutbahn gelangt. Dazu der bohrende Schmerz in der Schulter ...
„Hallo Michael!“
Abermals Wärmewallungen in meinem mir sonst so vertrauten Körper und kalter Schweiß auf heißer Stirn. Reni begrüßt mich, ich biete ihr Platz an und ertappe mich selber bei dem Gedanken: ‚Ich möchte mit ihr schlafen!’
Für einen Moment bin ich verwirrt und nicht in der Lage, mich vernünftig zu unterhalten.
„Benno war heute blendend! ...“, sie hatte die Vorstellung besucht, „... Er hat so eine ausgefeilte Technik und springt wie ein junger Gott ...“, sie trifft mich, wie mit einem Dolchstoß,
„... und ist dabei noch ausdrucksstark! ...“
Unbekümmert plaudert Reni weiter, während ich mich schon wieder zerfleische. ‚Die Schulter! - Nein, natürlich nicht die Schulter, er ist einfach besser und jünger. Wann werde ich das verdauen, ohne diese zermürbende Eifersucht? ‘
‚Natürlich hat er auch die bessere Rolle und ...‘ - Endlich wechselt sie das Thema.
Dero segelt durch den Raum, fällt krachend zwischen die Stühle. Riesengekreische und Getöle. Es geht mir auf die Nerven. Ich hätte Dero nicht so viel Schnaps geben dürfen, komme mir zum Kotzen vor und plaudere doch leicht und charmant mit der eleganten Reni, ihren weichen Körper an meiner Seite spürend. Sie fängt an, mich zu faszinieren, mich einzufangen, beginnt mir Komplimente zu machen, auf die ich wie immer, obwohl ich sie so dringend brauche, schroff und abweisend reagiere. Trotzdem schmeichelt sie mir. Wie unabsichtlich lasse ich meinen Arm auf ihren Rücken rutschen, erfühle ihre weiche Haut unter dem Abendkleid.
Читать дальше