Mit den letzten Worten war Jo lauter geworden und wütend aufgestanden.
„Scheiße! - Bekackte Scheiße, warum kann mich der Kerl nicht in Ruhe lassen!“
„Ah“, griff sie sich an den Kopf, „mir ist so schlecht!“
Ein flüchtiger schwarzer Schatten floh aus der Küche.
Michael zögerte, wusste nichts zu antworten, versuchte dann die Wütende beruhigend zu umarmen, doch sie löste sich abrupt. „Diese arroganten, blöden Affen konnte ich eigentlich nie leiden. Ronny ist blöd und gerade deshalb gefährlich. Pit ist gerissen, schlau, skrupellos, alles was du haben willst; eiskalt und unberechenbar gefährlich dazu. Pit könnte sich totlachen, wenn er von uns erfährt, aber genauso gut könnte er dich fertig machen wollen - oder beides, man weiß nie, wie er reagiert.“
„So einfach dürfte das mit dem Fertigmachen nicht werden!“, Michael versuchte zu verbergen, wie ihm in Wirklichkeit zumute war.
„Und wenn Wilhelm im Knast was mitkriegt, ist so oder so was los!“, resigniert setzte sich Jo an den Tisch, griff zu ihrer Bierflasche und fing an zu schluchzen.
„Scheißkerle! Ich gerat’ immer an solche Scheißkerle! - Und was machst du? Was für Geschäfte hast du laufen?“ Fast hasserfüllt funkelten ihre Augen ein paar Augenblicke, um dann wieder warm und weich, von neuem mit Tränen verschleiert, Michael anzublicken.
„Ach, ich will gar nichts wissen, sag nichts, sag nichts!“
Sie war über dem Tisch zusammengesunken und ließ jetzt ihren Tränen freien Lauf, der Kopf lag auf dem Arm und ihr ganzer Körper zuckte unter krampfartigem Schluchzen.
Michael strich beruhigend über ihren mädchenhaften Nacken und schwieg.
Seine Gedanken schweiften unweigerlich zurück in eine Zeit, die er doch unbedingt vergessen wollte, eine Zeit die er dauerhaft zu verdrängen suchte, Augenblicke mit seinen Frauen, mit Petra, mit Reni, Szenen am Theater, im Ballettsaal, auf der Bühne, der kranke Kai, sein Sterben, - all das schien wie ein wirrer, alptraumartiger Film im Inneren seines Schädels und unbeeinflussbar. Es half nicht die Augen zu verschließen, die Bilder wurden nur stärker, und Michaels Gedanken entglitten vollständig seiner Kontrolle.
Er war alt geworden, ein alter - müder - versoffener Tänzer, den seine Erinnerungen einholten. Er konnte es sich nicht verzeihen, dass er nicht genügend Härte aufgebracht hatte, um den Intrigen und Kritiken standzuhalten, als er Choreograph und Ballettdirektor wurde. Die Schwerkraft hatte ihn zurückgeholt aus seinen Höhenflügen, zu schnell, zu früh, zu radikal. Andere hatten seine Schwächen erkannt.
Er konnte sich seine Fehler mit Frauen nicht verzeihen. Er konnte sich nicht verzeihen, dass er an Alkohol geraten war.
Fast mechanisch strich Michael über den Nacken der schluchzenden Jo.
Und jetzt war er im Berliner Nachtleben versackt, eine Stufe weiter gefallen; und das nannte er ‚aussteigen‘, ‚in ein anderes Leben schlüpfen!‘ Und schon wieder brachte er auch anderen Menschen Unglück: - Jo, mit der er schlief, die er aber nicht liebte. Sie zog ihn sexuell an, dieses Verhältnis war erotisch, triebhaft, etwas in ihm wollte es so!
Er blickte Sie an: Irgendwie zerbrechlich dieser zarte Nacken, der dunkle Haaransatz, die blondierten Haare bedeckten einen schönen Kopf. Zärtlich, beruhigend strich er über den feinen dunklen Flaum ihres Nackens. Michael spürte bleierne Müdigkeit, drohend, lähmend. - Ja, er war alt geworden - ein alter - müder - versoffener Tänzer, den seine Erinnerungen einholten. War es Petras Nacken, über den er strich, dieser zarte Nacken, der ihm zugekehrt war? Petra, die schluchzende Petra, lag vor ihm auf dem Küchentisch und es zerriss ihm sein Herz. Sie war es, sie war da, seit Jahren hatte er sie nicht so nah gespürt.
Zwei Welten vermischten sich. Was war wirklich?
Eine Welle von Alkohol verschlimmerte seinen Zustand, die Wirkung des zu schnell nachgetrunkenen Biers kam zu heftig. Er musste sich bewegen, er musste tanzen, und er tanzte, allein, vor der schluchzenden Jo, tanzte auf kleinstem Raum in einer großen Altbauküche, und die Sonne warf durchs Fenster gebündeltes Licht auf ihn, wie die Scheinwerfer auf einer Bühne.
Doch die einzige Zuschauerin schaute nicht, sie weinte, während ein alter besoffener Tänzer seine Pirouetten drehte und tanzte, bis er auf die Nase fiel und laut krachend einen Stuhl zerbrach.
Jo schreckte auf, aus tränenverschmierten, verquollenen Augen sah sie Michael am Boden. Ein kleines Rinnsal Blut sickerte aus einer Platzwunde am Kopf, er schien bewusstlos.
Laura stand unversehens in der Türe, mit fragendem Gesicht, ihr zugewandt.
„Er ist einfach gestürzt, wie von ‘ner Axt ...“
Jo empfand sich wie festgemauert, sie war gelähmt, ratlos. Das Mädchen fasste sich zuerst, und beide versuchten, Michael aufzurichten, bis Jo nach langen, endlosen Minuten einfiel, dass man das Blut stillen sollte. Sie suchte Verbandszeug, tränkte umständlich ein Tuch mit kaltem Wasser.
Unterdessen ruhte Michaels Kopf am bloßen, von ein wenig Blut verschmierten Busen Lauras. Sie kniete nackt hinter dem schweren Mann und hielt seinen Kopf, als er langsam zu sich kam. „Petra, Petra, gut dass du da bist!“, murmelte er vor sich hin und abermals „Petra - Petra!“
Jo, inzwischen wieder klar, reinigte die Wunde, desinfizierte sie und klebte ein großes Pflaster darüber. Beide Frauen brachten den betrunken Schwankenden unter beträchtlichen Schwierigkeiten ins andere Zimmer zum Bett.
„Petra!“, flüsterte er noch und fiel in unruhigen Schlaf, während beide Frauen, besorgt um ihn, sich zu ihm legten.
Ihr Gang hatte ihn aufmerken lassen. An ihrem Gang hatte er sie erkannt. Um ein Haar wäre Michael seiner ehemaligen Tänzerin Ulla in die Arme gelaufen. In dieser großen Stadt geradezu ein Wunder. Nachdem er sie vor ein paar Wochen in einer Vorstellung am Theater des Westens gesehen und danach getroffen hatte, wäre es anständig gewesen sich wieder zu melden. Schnell verzog er sich in eine Schaufensterecke am Kuhdamm und beobachtete von dort aus, wie sie einen Bekannten traf und mit ihm weiterging. Überaus erregt löste sich Michael langsam aus der Ecke, um dann nachdenklich weiter zu schlendern.
Ulla - ein neuer Musicalstar? - Sie hatte den Absprung geschafft und war auf dem besten Weg dazu, es zu werden.
Michael konnte nicht so recht froh sein über seine reflexartige Reaktion. Er schämte sich jetzt, er hatte sich vor seiner ehemaligen Tänzerin versteckt, - aber wie hätte er ihr erklären können ...
„Zu dumm! - Ich bin zu dämlich!“, klagte er sich an. Er mochte Ulla. - Und Ulla würde ihn vielleicht sogar verstehen, sie kannte ihn gut.
„Ach Quatsch! Verdammt, sei nicht so sentimental, fang endlich an zu schreiben!“, schimpfend ging er in ein Geschäft für Büroartikel und kam nach einiger Zeit tatsächlich mit einer Reiseschreibmaschine und dem nötigen Papier wieder heraus. Er leistete sich ein Taxi und saß kurz danach vor einem eingespannten, leeren Blatt am einzig vernünftigen Tisch der Wohnung, in Jos Küche.
Wie sollte er beginnen? Lange saß er vor dem weißen, leeren Blatt und starrte es an, als würden die Worte von allein auftauchen, während flüchtige Bilder mit ihm zu spielen schienen. Sein Kopf war keinesfalls leer, aber es ließ sich kein Gedanke fassen. Jeder Versuch zu formulieren schlug fehl und brachte nur neue Erinnerungen hervor.
Michael war sich über die Form dessen, was er zu schreiben gedachte, noch nicht im Klaren. Er wollte aus seiner eigenen Sicht schreiben. Vielleicht sollte er in seiner Geschichte auch der Erzähler werden. Er stritt mit sich selbst.
Hatte er überhaupt das Talent, sich als Schreibender auszudrücken? Gaben das Tänzerdasein und seine persönlichen Erlebnisse genügend Stoff für einen Roman?
Читать дальше