Greg blickte betreten an sich herunter. Während Suri in ihrem orange-schwarzen Miederkleid, das ihre schwarzen, lockigen Haare so vorteilhaft zur Geltung brachte, den hohen Stiefeln und den Seidenhandschuhen beinahe wie eine elegante Dame aus gutem Hause aussah, konnte er nur mit einer gewöhnlichenTuchhose, ausgetretenen Schuhen und einer Zeitungsjungenmütze aufwarten. Die einzige Extravaganz stellte seine Lederweste dar, aber für einen Tanzabend zu flotter Swingmusik erschien sie ihm alles in allem doch eher unpassend. Sie konnten nun einmal keine großen Ansprüche stellen. Und auf der Tanzfläche würde er Philt schon den Rang ablaufen, da war er sich ganz sicher.
„Na, habt ihr euch aufgehübscht wie die Gockel?“, fragte Josh belustigt. Mit seiner Holzprothese konnte er nicht tanzen und Greg vermutete insgeheim, dass er sie deshalb jedes Mal, wenn sie sich zu einem Tanzabend verabschiedeten, mit spöttischen Bemerkungen bedachte.
„Das gehört doch dazu, oder?“, fragte er nur achselzuckend.
Josh bedachte ihn mit einem skeptischen Blick. „So besonders gockelhaft sieht es bei dir ja nun nicht aus.“ Er grinste Greg verschwörerisch an.
„Ich tue mein Bestes, aber gegen Philt ist heute kein Kraut gewachsen.“
„Jaja.“, trällerte Philt mit bester Laune. „Macht euch nur lustig. Wir werden ja sehen, um wen sich die Damen heute reißen werden. Komm Suri!“ Er reichte dem Mädchen seinen Arm und sie hakte sich elegant bei ihm unter. „Lass uns von hier verschwinden!“
Gemächlich schlenderten die beiden zum Tor des Hofs hinaus auf die Straße. Greg machte eine entschuldigende Geste in Richtung Josh und lief ihnen hinterher. „Bis später.“
„Passt gut auf und geht nicht allein!“, rief Josh ihnen nach.
„Ja, Mami.“, antwortete Philt, als sie auf die Straße bogen. Die drei brachen in ein fröhliches Kichern aus, das ebenso von Philts lustiger Bemerkung wie auch der Vorfreude auf einen dieser unbeschwerten Abende herrührte, die sie in letzter Zeit viel zu selten erlebt hatten.
Bis zum „Swinging Joes“, der Tanzbar, in der für heute Abend der Auftritt von Frogs Big Band angekündigt war, mussten sie nur ein paar Ecken laufen. Während sie sich neckten und Belanglosigkeiten austauschten, verging der Weg in Windeseile. Greg stellte begeistert fest, wie leicht es ihnen immer noch fiel, den Ernst und die Sorgen des Alltags hinter sich zu lassen, wenn sie zusammen waren. Es tat so gut, diese Gemeinschaft zu haben.
Gerade wollte er einen weiteren derben Kommentar zu Philts neuer Weste zum Besten geben, als Suri plötzlich die Hand hob und die beiden Jungen zum Anhalten aufforderte. „Schaut doch mal! Das ist aber eigenartig.“ Sie nickte mit dem Kopf nach vorn in Richtung der nächsten Straßenecke, an der sich der Eingang des „Swinging Joes“ befand.
Die Dämmerung hatte bereits eingesetzt, aber es fiel noch genug Licht auf die Straße zwischen den viergeschossigen Häusern, die auch schon einmal bessere Zeiten erlebt hatten, um zu erkennen, was weiter vor ihnen vor sich ging. Vor der Tanzbar hatten vier Jungen Aufstellung bezogen. Sämtliche Paare und Grüppchen, die sich in den meisten Fällen in Abendkleidung dem „Swinging Joes“ näherten, wurden von ihnen angesprochen und wandten sich dann nach einem mehr oder weniger langen Wortwechsel zum Gehen.
„Was wollen die denn?“, fragte Greg neugierig.
„Und wieso geht niemand hinein?“, wunderte sich Philt.
„Sieht aus, als würde heute kein Tanz stattfinden, oder?“, vermutete Suri.
Langsam gingen sie auf das Lokal zu und beobachteten, wie weitere potentielle Gäste weggeschickt wurden. Als sie noch ungefähr zwanzig Schritte zurückzulegen hatten, kam es zu einer Handgreiflichkeit zwischen einem jungen Mann in einem karierten Sakko, Melone und mit Regenschirm, der offenbar trotz aller Worte versuchte, die Tanzbar zu betreten, und den vier jungen Männern. Zwei der Wachposten packten ihn geschwind unter den Armen, während ihm ein dritter einen derben Schlag in die Magengegend versetzte. Dann warfen sie ihn wie einen Sack Kartoffeln zurück auf die Straße, wo er im Staub zu liegen kam. Philt und Greg eilten zu dem jungen Mann und halfen ihm auf die Beine. „Das werdet ihr büßen.“, brüllte er den hämisch grinsenden Wachposten zu, „dann humpelte er gedemütigt und schmutzig davon.
„Was ist denn los?“, fragte Philt die vier jungen Männer herausfordernd. Greg stellte bei näherem Hinsehen erschrocken fest, dass er die Uniform der Wachposten kannte. Schwarze Hosen, blaue Hemden, weiße Hosenträger – so waren er und Mav vor nicht allzu langer Zeit noch durch die Terapolis gelaufen. Die Kleidung der Weißen Löwen würde er überall sofort wiedererkennen. Aber was taten sie in seiner City? Waren sie seinetwegen gekommen? Er erinnerte sich an die Worte des alten Nick. ,Nimm dich nicht so wichtig!', ermahnte er sich selbst und trat neben Philt.
„Es gibt keine Tanzabende mehr, das ist los.“, antwortete einer der Jungen und trat einen kleinen Schritt auf Philt und Greg zu, um ihnen zu zeigen, wer hier das Sagen hatte.
„Wie, keine Tanzabende mehr?“, hakte Philt verwundert nach.
„Tanzen ist schädlich für die gesellschaftliche Moral. Es raubt uns wertvolle Energie für die Arbeit am Großen Ganzen.“, erklärte der junge Mann mechanisch.
„Am Großen Ganzen?“, fragte Suri spöttisch.
Der Junge sah sich hilfesuchend nach seinen Kameraden um. „Das bedeutet, dass es allen besser gehen wird, wenn wir gemeinsam hart arbeiten und den von den Göttern erkorenen Führern unseren Respekt erweisen.“, sprang ihm ein grobschlächtiger Junge mit Schlägervisage bei. „Und jetzt verzieht euch! Getanzt wird hier nie wieder.“
„Aber Paul. Was soll denn der ganze Schabernack mit den blauen Hemden und so?“, fragte Philt in halb belustigtem Ton der Jungen, der zuerst auf sie zugekommen war.
„Du kennst ihn?“, fragte Suri beinahe erschrocken.
„Klar, das ist Paul. Er ist ein Sucher, wie ich. Wir treffen uns oft zwischen den Müllbergen.“, erklärte Philt, woher er den Jungen kannte. „Und ein verdammt guter Tänzer.“, fügte er nachdenklich hinzu und schaute Paul dabei direkt in die Augen.
„Ich bin kein Sucher mehr.“, platzte Paul arrogant heraus. „Die Weißen Löwen geben mir ehrliche Arbeit.“
Also doch die Weißen Löwen. Greg wurde ganz mulmig zumute.
„Jetzt pass mal auf, dass es dir nicht in die Nase reinregnet, so hoch, wie du sie trägst!“, brummte Philt Paul ärgerlich zu.
„Jetzt schieb schon ab und lass Elram in Ruhe!“, mischte sich der grobschlächtige Junge ein und trat bedrohlich auf Philt zu.
„Elram?“, prustete Philt los. Der Schlägertyp kniff die Augen zusammen und ballte die Fäuste. Beherzt schnappten sich Greg und Suri jeweils einen von Philts Armen und zogen ihn schnell aus der Gefahrenzone.
„Und lasst euch nicht noch einmal beim Tanzen erwischen!“, erscholl eine letzte Drohung hinter ihnen, als sie eilig die Straße entlang zurück nach Hause liefen.
Erst, als sie den Torbogen zu ihrem Hof erreicht hatten, verlangsamten Greg und Suri den Schritt.
„Elram? Haben die noch alle beisammen?“, fragte Philt, der sich offenbar nicht entscheiden konnte, ob er lachen oder verängstigt sein sollte.
„Sie geben sich Namen, die in einem heiligen Buch stehen.“, erklärte Greg seinen Freunden, warum der Junge Paul mit einem anderen Namen angesprochen hatte.
Philt schaute ihn schräg an. „Woher weißt du das?“
„Ich habe sie getroffen. Damals, in der Terapolis.“, erläuterte Greg.
„Elram?“, fragte Philt verwirrt.
„Wen hast du getroffen?“, wollte Josh, der sich von den in das Gespräch vertieften Freunden unbemerkt genähert hatte. „Und wer ist Elram?“
„Die Weißen Löwen. Ich habe sie kennen gelernt. Sie haben Mav und mir geholfen, als wir in der Terapolis waren.“, erklärte Greg.
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