Beim Anflug sieht das Land für mich überraschend grün aus. Endlose Flächen in verschiedenen Grün- und Brauntönen, unterschiedlich in Größe und Form: Dreiecke, Rechtecke mit Schrägen, nichts Abgezirkeltes, nichts Gerades. Ein Flickenteppich, Patchwork. Interessant finde ich die andere Sicht auf die Weltkarte am Bordbildschirm: „Unser“ Norden liegt jetzt im Süden bzw. Afrika „oben“ und Europa „unten“ auf der Karte. Jeder Kontinent könnte sich auf diese Weise als Nabel der Welt fühlen.
Mein erster Eindruck auf dem Weg vom Flughafen zum Hotel: Slums, dann Wohnhäuser, die von einer Mauer umgeben sind. Manchmal sind davor noch Wälle aus Bäumen oder Sträuchern. Durch Palmenalleen fahren wir, dann vorbei an verfallenden Häusern und Hochhäusern sowie riesigen Neubauten, die sehr dicht neben einander stehen. Quirlige Großstadt, die „weiße Stadt“, und wir sind mitten drin in diesem zehnstöckigen Hotel.
Um 20 Uhr speisen wir an einem festlich gedeckten Tisch des großen Speisesaals. Die jungen Kellner sind nicht nur höflich. Sie lächeln, auch mit den Augen, was ihre Gesichter noch hübscher macht. Sogar die schweren Stühle ziehen sie für uns zurück, wenn wir zum Buffet gehen. Dort warten viele bunte Salate, die zu essen ich mich aber nicht traue, weil ich gelesen habe, dass man nur Gekochtes oder Geschältes essen soll. Es gibt zwei Suppen, Hühnchen in einer köstlich gewürzten Soße, verschiedene Sorten warmes Gemüse und sehr bunt verzierten Nachtisch: Kuchen in winzigen Rechtecken und Pudding.
Über dem Hühnchen sage ich zu meiner Nachbarin: „Ist das lecker! Und alles so schön dekoriert! Ich würde gern wissen, was das alles ist, wie es heißt, was drin ist ...“
„Dann sollten Sie mal nachfragen.“
„Ich kann kaum drei Sätze auf Französisch. Doch unseren Reiseleiter werde ich später fragen.“
„Ja, tun Sie das. Mir kommt er sehr reserviert vor. Sind Sie schon mal mit diesem Reiseveranstalter, gereist?“
„Ja, das ist schon einige Jahre her. Und Sie?“
„Schon häufig. Wir waren vor einem Jahr in Indien. Das war die schönste Reise, die wir bisher erlebt haben. Spitzenmäßig organisiert, wunderbare Begegnungen. Und der Reiseleiter! So ein netter Mensch, herzlich und so fürsorglich! Also, wenn Sie mal ...“
„Ich weiß nicht ... Vor vielen Jahren war ich mal dort und habe mich gar nicht wohl gefühlt.“ „Ja, die extreme Armut, damit muss man zurecht kommen. Wenn einem das gelingt, dann ist Indien ein ganz besonderes Land mit ganz besonderen Menschen und außerordentlichen Schönheiten. Sehr empfehlenswerte Reise!“
Indien, noch immer mein Trauma - Land. Aber das ist eine andere Geschichte. Jetzt bin ich in Marokko.
21.00 Uhr: Draußen höre ich pausenloses Hupen in verschiedenen Tonlagen. Konzert würde ich das trotzdem nicht nennen. Man merkt nicht, dass die Fenster geschlossen sind, so nah und laut sind die Straßengeräusche. Schwül ist es hier wie zuhause im Hochsommer. Mein Kopf brummt, das Leben draußen auch. Samstagabend. Ob solch eine Stadt überhaupt zur Ruhe kommt?
Unser Reiseleiter hat uns davon abgeraten, in die Altstadt von Casablanca zu gehen. Auch wenn wir in die Neustadt gehen, sollten wir keine Wertsachen mitnehmen. Ich habe ohnehin nichts dergleichen dabei. Dem Polyglott-Reiseführer entnehme ich, dass Casablanca das Wirtschaftszentrum Marokkos mit über drei Millionen Einwohnern und Traumstadt westlich orientierter Marokkaner ist. Die Reichen des Landes leben in Villen und besitzen Strandhäuser, während die Landflüchtlinge am Stadtrand in „Kanisterstädten“ leben. Diese bevölkerungsreichste Region des Landes ist auch die mit dem größten sozialen Konfliktpotential. Unter Jugendlichen ist die Arbeitslosigkeit hoch, was wachsende Kriminalität und Hinwendung zu fundamentalistischen Gruppierungen zur Folge hat.
Zweiter Tag: Casablanca - Rabat - Meknès
Zum Frühstück habe ich eine marokkanische, lecker gewürzte Gemüsesuppe mit etwas Reis darin probiert, dazu süßen Thé à la menthe - zuhause soll mir mal einer mit Pfefferminztee kommen, brrr - und ein leicht zimtiges braunes Brötchen. Völlig ungewohnt und überraschend gut.
In unserem Reisebus sitze ich hinter der mittleren Tür rechts. Kann es sein, dass die vordersten Plätze erkämpft wurden? Beim Einsteigen habe ich gefragt, ob wir zum Fotografieren aus dem Bus irgendwann die Plätze tauschen könnten. Oh, das geht aber gar nicht! Denn: „Wir legen doch unsere Sachen an diesem Platz ab, da müssten wir ja ständig umräumen.“ Und: „Da müsse Se sisch bei de nekste Reise frühe anstelle.“
Die Sonne hält sich zur Zeit bedeckt. Dichte graue Wolken begleiten uns. Auf der Fahrt von Casablanca zur etwa hundert Kilometer entfernten Hauptstadt Rabat fahren wir an Feldern und Wiesen vorbei. Das muss die Gegend sein, die ich aus dem Flugzeug gesehen habe: Patchwork. „Hier gibt es viel Landwirtschaft, ja?“, erklärt Mohamed, unser marokkanischer Reiseleiter in perfektem Deutsch, wobei er das „ja?“ ganz kurz ausspricht und die Stimme fragend anhebt. „Getreide, Gemüse, Zitrusfrüchte, Wein. Der Norden ist sehr fruchtbar.“ In geringer Entfernung zur Straße liegen viele ärmliche Behausungen im Regennebel.
Unser Busfahrer heißt - „Raten Sie mal.“ - auch Mohamed, wie die meisten Männer und Jungen im Land, und wird uns vom Reiseleiter als langjährig erfahren vorgestellt. Er lebt mit seiner Familie in Taroudant. Der dunkelhäutige Begleiter, zuständig für die Sauberkeit im Bus, heißt Mose und kommt ebenfalls aus dem Süden Marokkos. Er wird immer nachzählen, ob wir alle da sind, bevor er das Zeichen zur Weiterfahrt gibt. Wir erfahren, dass seine Vorfahren schwarzafrikanische Sklaven waren. Dann stellt sich unser Reiseleiter vor. „Also, ich bin Mohamed und komme aus Agadir, ja? Dort lebe ich mit meiner Frau und zwei kleinen Töchtern, zwei und vier Jahre alt ...“
„Eine Frau oder mehrere?“, ruft jemand aus der Gruppe.
„Eine. Ein Unheil reicht. Sagt man so bei Ihnen?“
„Häm, hm“, kommentiert vorn eine Frauenstimme, während einige Männer lachen.
„Aber das war jetzt ein Scherz, ja? Ich bin 45 Jahre alt, habe Germanistik und Deutsche Geschichte studiert und bin seit 1992 Reiseleiter. Ich werde Ihnen in den nächsten Tagen einiges über Marokko erzählen, ja? Also über Familie, Schulen, Wirtschaft, Islam und so weiter. Außerdem jeden Morgen einen Witz - zum Wachwerden.“
Regierungssitz des Landes. Mohamed erklärt, dass wir gerade an vielen Diplomatenvillen vorbeifahren. Wir sehen kaum etwas, da sie hinter Mauern liegen. Aha, denke ich, irgendwo hier freut sich eine der beiden Schönen aus dem Flugzeug, wieder bei ihrer Familie zu sein. An einem Tor, vor dem auf dunklen Araberpferden eine Garde in roter Uniform mit weißem Umhang Wache hält, steigen wir aus und begrüßen einen lokalen Fremdenführer. Ahmed, dessen Name wie auch „Mohamed“ auf der zweiten Silbe betont wird, begleitet uns durch Rabat. Wir besichtigen ein Grabmal, das Mausoleum von König Hassan V. Es wurde von 1961 bis 1971 zu Ehren des Großvaters von Mohamed VI., dem heutigen König, nach dem Vorbild traditioneller Grabstätten errichtet. Ahmed, dunkle Augen und feine Gesichtszüge, trägt ein langes, dunkelbraunes Gewand, eine Djeballah, und weist sich dadurch und mit einer Plakette an der Brust als offizieller Fremdenführer aus. Auf den Stufen zur Grabstätte erklärt er, dass die Außenmauern des Mausoleums aus Carrara-Marmor bestehen. Drinnen stehe und staune ich, überwältigt von der Schönheit und Pracht dieser Anlage. Von einer Galerie schauen wir auf die marmornen Sarkophage* des Königs und seiner beiden Söhne. Die Wände des Mausoleums sind mit kunstvollen Schnitzereien und Mosaiken verziert. Eine Tür aus Gold ist kostbar ziseliert. Schwere bunte Glaslampen hängen über den Sarkophagen.
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