Seine Freunde hielten ihn für versponnen. Regelmäßig eine zweistündige Fahrt auf sich zu nehmen, um für eine im Vergleich lächerliche Zeitspanne einen altmodischen Zug zu bewundern, das konnte man getrost als eigenwillig bezeichnen.
Mischka war der Erste, der das zugab.
»Scheiß drauf«, lautete sein Kommentar. Jeder hatte einen Vogel und er war nicht mal ein Trainspotter. Er schätzte die Tier- und Pflanzenwelt, die aufgrund der harten Bedingungen extreme Auswüchse aufwies. Er mochte das Territorium, in dem er lebte, war generell ein zufriedener Mann.
Er ging gern spazieren und bewunderte die Dinge, die er sah. Dazu gehörte der Zug. Manchmal fühlte Mischka sich alt, nicht mehr gewillt, den Entwicklungen der Moderne zu folgen.
Der Zug war eine Art Trostspender, wie er ein Relikt aus einer vergangenen Epoche war.
Züge stellten auf Leone das wichtigste Verkehrsmittel dar. Fliegen war nur in Ausnahmefällen ein Thema, Troposphäre und Stratosphäre wiesen Besonderheiten auf, die den Einsatz komplexer Technologien zum größten Teil unmöglich machten.
Der Planet leistete sich mithilfe eines sogenannten Nadelöhr-Systems einen Raumhafen, damit erschöpften sich die Möglichkeiten der Hochtechnologie. Güter, deren Erstellung ein kniffliges und aufwendiges Prozedere voraussetzte, importierte man, sei es von anderen Welten oder diversen Stationen im Orbit, Fabriken, die Leone sein Eigen nannte. Diese produzierten, was auf dem Planeten nicht machbar war. Der tatsächliche Bedarf war auf diese Weise natürlich niemals zu decken, und so wurde improvisiert.
Man hatte auf uralte Techniken zurückgegriffen, und darum konnte man seit kurzer Zeit Zeppeline durch den Himmel fahren sehen.
Bis jetzt waren es nur ein paar und sie brachten nicht im Ansatz dieselbe Leistung wie Züge. Langsamer und weniger tragfähig. Doch man stand am Beginn einer vielversprechenden Entwicklung.
Von einer Seilbahn zu den Sternen war die Rede, von neuen und abenteuerlichen Wegen des Transports und der Fortbewegung.
Der hochenergetische Biotransfer, der auf einigen Welten testweise in Betrieb genommen worden war, ließ hier noch lang auf sich warten.
In die einzelnen Atome zerlegt durch die Gegend geschossen zu werden, darauf vertrauend, dass ein Zielcomputer die Einzelteile richtig und vollständig zusammensetzte?
Was für ein Wahnsinn! Jeder Transfer war ein Tod. Man wurde in seine Komponenten aufgelöst. Es sollte nur einen Tod geben. Sterben, um von A nach B zu gelangen, welch schwachsinnige Idee. Niemand garantierte, dass nicht der Verstand Stück für Stück dabei verloren ging. Wer wusste nachher zu sagen, ob er Erinnerungen vermisste? Eben.
Im Endeffekt blieb der Zug die wirtschaftlichste und sinnvollste Methode, um auf Leone größere Strecken zu überwinden.
Solang es noch einen der ohnehin nur mehr fünf 1700er gab, hatte er vor, zum Bahnhof zu pilgern, um sich an einem der Wunderwerke zu erfreuen.
Jemand verließ den Zug. Das hatte er lange nicht mehr beobachtet. Für gewöhnlich stiegen Leute nur ein, um sich aus dem Staub zu machen.
Mischka verlangsamte seinen Schritt, während er den Ankömmling einer ferndiagnostischen Musterung unterzog. Der Mann war in einen bodenlangen, senffarbenen Staubmantel gehüllt, trug abgewetzte Stiefel von unbestimmbarer Farbe. Auf seinem Kopf ein Hut mit Krempe, die das Gesicht beschattete, ähnlich Mischkas eigener Kopfbedeckung. Auf der Nase balancierte eine Brille mit runden, getönten Gläsern. Auf den ersten Blick wirkte diese Ausstattung deplatziert. Kein Ansässiger kleidete sich in derartiges Zeug.
Mischka nickte zustimmend. Besonders der Mantel war clever gewählt. Ein praktischer Staubfänger, hielt die Strahlung von Leones Zentralgestirn von der Haut ab, und wenn die Sonne hinterm Horizont verschwand, spendete er Wärme.
Nächtens in der Wüste war es eiskalt.
Was ihn hingegen stutzig werden ließ, war das Fehlen von großem Gepäck. Der Mann transportierte nicht mehr als eine Tasche über der linken Schulter. Ein donnerndes Trompeten erschreckte Mischka. Es knirschte, knallte, die Türen klappten zu, die Treppen verschwanden im Rumpf und der Zug setzte sich mit einem Ruck in Bewegung.
Dampf quoll unter den Wagen hervor. Für Augenblicke verbarg sich der Bahnhof hinter einer enorm dichten, blütenweißen Nebelwolke, die so rasch abzog, wie sie gekommen war. Dabei nahm sie den Zug mit sich.
Etwas Neues.
Er und der Fremde waren nicht mehr allein. Auf der anderen Seite der Trasse, am Behelfssteig mit den Laderampen, standen drei Personen über die Länge des Bahnsteigs verteilt. Sie marschierten jetzt auf einen Punkt gegenüber dem Mann im Staubmantel zu.
Mischka musterte die Typen und hätte beinahe zufrieden gelächelt. Ja, er lag richtig. Klassische Handlanger. Leute, derer man sich bediente, wenn man eine simple Angelegenheit effektiv und nachhaltig erledigt haben wollte. Ohne sich zu scheuen, die Sache grob geraten zu lassen.
Schwer zu sagen, woher sie stammten. Professionelle Schläger waren entweder sofort als solche zu erkennen oder sie beherrschten ihren Job wirklich.
Mischka erstarrte mitten in der Bewegung und überlegte. Wenn er sich jetzt zu schnell bewegte, könnte er das Pech haben, die ungewollte Aufmerksamkeit dieser Typen auf sich zu ziehen und in Schwierigkeiten zu geraten. Blieb er hingegen reglos stehen, bekam er eventuell als unerwünschter Zeuge Ärger.
Großartig. Er hatte die Wahl zwischen beschissen, beschissener und total beschissen.
Besser, er sah zu, dass er dezent und gemütlich verschwand, in der Hoffnung, als unwichtig ignoriert zu werden.
»Habt ihr ein Pferd für mich?«, fragte der Unbekannte.
Die drei stutzten, dann kicherte einer von ihnen.
Scheiße.
»Wie es aussieht, haben wir einen Gaul zu wenig«, lachte er. Seine Kumpane fielen in das blöde Gelächter ein. Plumpe, aufgesetzte Belustigung, erzwungen vom Leitbullen, so echt wie Rosenduft beim Kacken. Obwohl ...
Der Mann im Staubmantel schien davon nicht beeindruckt.
»Oh nein«, sagte er. »Ihr habt zwei zu viel.«
Doppelte Scheiße.
Das Lachen hörte schlagartig auf.
Absolute Scheiße.
Die Sache geriet noch beschissener, als der Fremde mit einer scheinbar gemächlichen Bewegung den langen Mantel zurückschob und Mischka den Gürtel mit Holster sah. Den Haken, der das Wams aus dem Weg hielt. Er sah, wie die Hand sich auf den mit Perlmutt beschlagenen Griff der Schusswaffe legte, der Daumen den Verschluss aufflippte und der Neuankömmling die Knarre zog.
Die Waffe war ein mächtiges Teil, ein ihm unbekanntes Modell. Aus dem Augenwinkel sah er, wie die drei Handlanger auseinanderhechteten und gleichfalls ihre Pistolen zogen. Das sah übel aus.
Vielleicht wäre es jetzt an der Zeit, irgendeine Aktion zu setzen. Aber er war nicht in der Lage, viel anderes zu tun als gebannt zu starren, während der Fremde den Abzug des Schießeisens durchzog.
Er war unglaublich schnell.
Die Knarre furzte.
Was soll das, fragte sich Mischka, das antwortende Knallen der gegnerischen Waffen vernehmend. Anstelle einer Erklärung bekam er einen heftigen Schlag in die Rippen, der ihn herumschleuderte und von den Füßen riss.
Verdammter Mist, ich bin getroffen, dachte er. Dann hörte er erneut das verdächtig nach Fürzen klingende Geräusch, ehe er zu müde wurde, irgendetwas zu beachten. Der Schmerz ließ nach, als der Schlaf ihn zu übermannen begann.
In einer Schießerei einzuschlafen ist schwachsinnig, ging es ihm durch den Sinn. Im letzten bewussten Moment stellte sich noch eine bedeutsame Frage.
Welche Pferde?
Eine weibliche Stimme rief nach ihm.
»Miscatonic Hindin.«
Er schlug die Augen auf und starrte auf kirschrote Lippen. Feucht glänzend, unmittelbar vor seinem Gesicht waren sie, leicht geöffnet, erwartungsvoll und ... wie, was? Wieso hockte da ...?
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