1 ...7 8 9 11 12 13 ...31 Während die beiden Frauen sich auf einer Bank aus rotem Zedernholz unter einem schwer tragenden Orangenbaum niederließen, starken schwarzen Kaffee tranken und süßes Engelshaar kosteten, hatte Arthur sich bereits tief in einen Sessel in der Bibliothek Don Migueles vergraben. Er hatte nicht einmal den Reitmantel abgelegt. Seine Augen waren gebannt auf den Text der ‚Smaragdtafel” gerichtet. Sogar in den liberalen Vereinigten Königreichen war dieses Buch verboten, alle auffindbaren Exemplare hatte vor langer Zeit König Karl I. dem Feuer überantwortet
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Als die Nacht einbrach, füllte sich die Quinta mit regem Leben. Aus Coimbra selbst und der ganzen Umgebung waren Freunde und Verwandte von Don Antonio und Donna Ines angekommen, um Nochevieja zu begehen. Nach einem ausgelassenen Abendessen, bei dem die britischen Gäste mit jedem auf ein glückliches 1810 hatten trinken müssen, machte die Gesellschaft sich auf den Weg zum Hauptplatz der Stadt, um sich Schlag Mitternacht unter der großen Glocke der neuen Kathedrale, der Se Nova, einzufinden. Der Platz war übervölkert von Bürgern, Händlern, Bauern und Studenten. Wellington konnte in der Menge auch viele rote Röcke ausmachen. Seine bei der Bevölkerung zwischen Coimbra und Viseu einquartierten Soldaten und Offiziere schienen sich gut akklimatisiert zu haben. Als die Glocke Mitternacht schlug, fiel jeder überschwenglich seinem Nachbarn um den Hals und alle wünschten sich ein gutes neues Jahr. Fast jeder hatte Wein oder Cava mitgebracht und bald schon war die Stimmung laut und feuchtfröhlich. Gegen zwei Uhr morgens waren alle dann wieder in der Quinta das Lagrimas, wo ein spätes, oder frühes Essen – die beiden Briten wußten das nicht so genau – serviert wurde. Irgendwann, kurz nach Sonnenaufgang verschwanden die Gäste müde, aber zufrieden in den Betten, oder in ihren Kutschen, die sie nach Hause befördern sollten. Arthur und Sarah verabschiedeten sich ebenfalls von ihren Freunden und zogen sich über die große Holztreppe in ihren ersten Stock zurück. Irgend jemand hatte sorgfältig die Fensterläden verschlossen und in den Zimmern brannten weich Kerzenlichter. Sarah legte ihre Weste ab und ließ sich mit ausgebreiteten Armen auf das riesige Bett mit Samtbaldachin fallen: „Dieses Haus ist wunderbar, der Abend war wunderbar, und nach den ganzen Anstrengungen und Entbehrungen der letzten Monate ist es wunderbar, daß wir endlich ein paar Wochen miteinander alleine sein können!” Sie streckte ihre kleine Hand nach Arthur aus und zog ihn neben sich. „Übrigens, Donna Ines hat mir die Geschichte der Quinta erzählt, während du dich in deinem dicken staubigen Buch vergraben hast. Sie ist bezaubernd!“ Wellington legte seinen Arm über Sarah und schmiegte sich eng an sie. Leise flüsterte er ihr ins Ohr: „Und wenn du mir das alles ein wenig später erzählst? Am besten im Garten, bei Mondschein!” Dann fing er vorsichtig an, die feinen Perlmuttknöpfe ihrer Bluse zu öffnen. Seine Hände glitten sanft über die weiche, warme Haut. Ihre Lippen suchten die seinen, während sie ihm das Hemd von den Schultern streifte. Sarahs schlanker, biegsam Körper schmiegte sich gegen ihn und die letzten Schranken der Zurückhaltung und Selbstbeherrschung fielen. Sie waren nur noch zwei Menschen, die vorbehaltlos und leidenschaftlich liebten und einander vertrauten. Es bedurfte keiner Wort, um dem anderen dies mitzuteilen. In diesen wertvollen Augenblicken, in denen sie so vollkommenen eins wurden, stellte Sarah sich manchmal die Frage, wie ein Mann nur zwei so grundverschiedene Seiten haben konnte. Es kam ihr vor, als ob es zwei Persönlichkeiten gab: Zugleich stolz und bescheiden, kühl und liebevoll, distanziert und überaus sensibel, skrupellos und rücksichtsvoll, gleichgültig gegenüber den Leiden anderer und doch zutiefst davon berührt. Die Kerze die sanft das Schlafzimmer erleuchtete, warf einen kurzen Augenblick lang ihren Schein auf seine Augen. Der kalte Schleier, der fast immer über ihnen lag, war gefallen und sie sah nur noch ein einfaches Bedürfnis nach ehrlicher Zuneigung. Sie nahm ihn in die Arme, fast wie ein Kind, liebkoste ihn und gab ihm diese seltene Gewißheit, daß es in seiner Welt aus Gewalt, Tod und Blutvergießen wenigstens einen Menschen gab, dem er ohne Schutzpanzer entgegentreten konnte und der ihm niemals weh tun würde. Während sie ganz vorsichtig über die häßliche Narbe strich, die seine Verwundung bei Talavera zurückgelassen hatte, fragte sie sich, wie viele dieser Narben der Krieg wohl auf seiner Seele zurückgelassen hatte. Sie waren unsichtbar, doch sie wußte, daß sie existierten. Es hatte Nächte gegeben, in denen seine furchtbaren Alpträume ihr den Schlaf geraubt hatten. Am Anfang hatten ihr diese Augenblicke Angst gemacht. Irgendwann hatte sie dann verstanden, daß es einen Weg gab, seine Gespenster zu vertreiben. Eine Berührung, die Nähe ihres Körpers und ihre Zuneigung waren stärker als seine Furcht. Und es gab sogar Nächte, in denen die Gespenster es nicht mehr wagten, ihn überhaupt zu quälen. Zufrieden stellte sie fest, daß er eingeschlafen war und sein Atem ganz ruhig ging. Sie schmiegte ihre Wange an seine Brust und hörte, wie regelmäßig sein Herz schlug.
Die nächsten Tage vergingen in angenehmer sorgloser Stimmung. Don Antonio und Donna Ines unternahmen mit ihren britischen Gästen Ausflüge in die Gegend von Coimbra. Die vier erhielten außerdem Einladung um Einladung, denn jeder wollte den Mann sehen, der nun schon drei Mal die Truppen des Kaisers von Frankreich geschlagen hatte und ihr Land vorläufig von den Franzosen befreien konnte. So lernten Sarah und Arthur Condeixa-a-Nova kennen, den Palacio dos Lemos und den Palacio dos Almadas. Nur eine starke Meile von diesen alten herrschaftlichen Häuser entfernt, befand sich auch das größte Ruinenfeld Portugals aus römischer Zeit. Don Antonio bezeichnete es als „Unser kleines Pompeij“. Es befand sich bei Coinimbriga, einem Ort, der vormals ein bedeutender Schnittpunkt der römischen Verbindungsstraße von Felicitas Julia, dem aktuellen Lissabon nach Portus Cale, dem heutigen Oporto gewesen war. Ursprünglich war Conimbriga keine rein römische Schöpfung gewesen, sondern konnte auf die Zeit der Kelten zurückdatiert werden. Es war interessant, daß die Stadtmauern nicht um die Siedlung herum gebaut worden waren, sondern mitten durch sie hindurch. Offenbar hatte man irgend wann einmal, in der Eile und um einen überraschenden Barbareneinfall abzuwehren, bewohnte Gebiete aufgegeben und einen Schutzwall errichtet, um zumindest Teile der Stadt zu verteidigen. Doch die wilden Sueben zerstörten trotzdem Conimbriga und die Bevölkerung siedelte sich auf den sichereren Hügeln des heutigen Coimbra an. Unweit dieser verlassenen Kelten- und Römerstadt befand sich der fast 500 Hektar große Wald von Busaco, der wegen seiner Vielfalt an einheimischen und exotischen Pflanzen ein kurioser Ort war. Donna Ines erzählte, daß Urgroßvater Don Miguele, der Seefahrer, wie viele andere portugiesische Kapitäne auch, Samen und Stecklinge aus Ozeanien und Brasilien, aus Afrika und dem Orient mitgebracht und den botanisch kundigen Karmelitermönchen geschenkt hatte, die bereits seit dem frühen 17. Jahrhundert ein Kloster bei Lova, am Osthang der Sierra do Busaco hatten. Mehr als 400 einheimische und 300 exotische Baumarten waren im Wald von Busaco vertreten, darunter Zedern aus dem Libanon und Mexiko, uralte Ginko- und Sequoiabäume aus Amerika, Araukarien, Palmen, Erlen, Ulmen und Baumfarne. Die Anfänge dieser Pflanzungen gingen noch weiter zurück. Ursprünglich hatten die Franziskaner hier Einsiedeleien unterhalten und geschichtlich wurde der Forst von Busaco zum ersten Mal im 6. Jahrhundert nach Christus erwähnt. Die Karmeliter-Mönche errichteten dann, vor fast 200 Jahren, eine vier Meilen lange Umfassungsmauer mit zehn prachtvoll geschmückten Toren um ihren botanischen Schatz und im Inneren zahlreiche kleine Kapellen und Ermidas und sogar eine Via Sacra. Sie hatten Wege angelegt und Teiche und Brunnenanlagen zur Bewässerung. Zahlreiche Waldquellen wurden von exotischen Pflanzen und Sträuchern eingerahmt. An einem der Tore hatte ein Mönch den Vieren stolz eine große Bronzetafel gezeigt: Im Jahre 1653 hatte Papst Urban der VIII. verfügt, daß jeder, der einen Baum fällte oder verletzte, exkommuniziert würde. Dann wandte er sich grinsend den beiden Damen zu: „Und 30 Jahre zuvor hatte Gregor der V. auf Bitten unseres Ordens sogar allen Frauen den Zutritt zu diesem Ort versagt, damit die Ladys uns nicht bei unseren Forschungsarbeiten ablenken konnten. Aber das war vor langer Zeit! Wir sind heute viel liberaler geworden und freuen uns, Ihnen unsere kleinen Schätze zeigen zu dürfen.“ Dann hakte er Lady Lennox unter und zog sie von der kleinen Gruppe fort: „Für Sie als Arzt dürfte unsere Sammlung von Heilkräutern sicher besonders interessant sein! Inzwischen werden unsere Freunde Don Antonio und Donna Ines dem General den Rest des Parks zeigen! Sie kamen früher, als in diesem Land noch Frieden herrschte, oft zu Besuch und kennen hier jeden Strauch und jeden Baum.”
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