Darauf hatte Athene nur gewartet, und als Erstes beruhigte sie die stürmischen Winde. Nur der Nord durfte noch blasen, damit ihr Schützling sobald wie möglich an die Küste der Phaiaken getrieben würde.
Aber auch so musste Odysseus noch zwei Tage und Nächte durchhalten, bevor er ein mächtiges Dröhnen vernahm.
Was war das? Würde er nun mit der Brandung gegen das spitze Gestein felsiger Klippen geschmettert? Was sollte er tun?
Seitlich auszuweichen, barg das Risiko in sich, wieder ganz zurück ins Meer getrieben zu werden.
Da wurde Odysseus mit fürchterlicher Kraft von einer Welle gepackt. Hätte ihm Athene nicht die Sinne geschärft, Welle und Fels würden ihn zwischen sich zermahlen haben. So aber gab Odysseus der Welle nach und sprang von sich aus die nahende Klippe an. Seine Hände griffen nach dem rauen Gestein und krallten sich daran fest. Odysseus entdeckte noch die Mündung eines Flusses, als ihn abermals eine Welle niederdrückte. Er ließ den Felsen los und schwamm todesmutig auf den Auslauf zu. Für einen Lidschlag hielt er inne und betete zu dem Flussgott, dass er ihn nach all der ausgestandenen Not nicht abweisen möge.
Der Gott erhörte ihn und beruhigte seine Flut.
Endlich gelang es Odysseus, über den glatten Flusskiesel ans Ufer zu robben. Völlig zerschunden und erschöpft erbrach er all das geschluckte Meerwasser und blieb dann eine ganze Weile ohnmächtig liegen.
Als Odysseus wieder zur Besinnung kam, gedachte er der Mahnung Leukotheas. Er warf das Tuch in den Fluss, der es seiner Besitzerin entgegentrug. Dann ging er ein Stück in den nahen Wald hinein, um sich einen windgeschützten Platz zu suchen.
Das Geäst zweier Ölbäume war zu einem dichten, grünblättrigen Dach verflochten. Darunter entdeckte Odysseus so viel Laub, dass sich noch zwei, drei weitere Männer sogar gegen die Kälte eines Wintertages zu schützen vermocht hätten.
Schnell grub er sich mitten in das Laub hinein, und Athene schickte ihm einen tiefen, heilenden Schlaf.
Die Phaiaken wurden einst immer wieder von den übermächtigen Kyklopen ausgeplündert. König Nausithoos hatte deshalb beschlossen, sie weit weg von irgendwelcher Nachbarschaft zu führen.
So fand dieses Volk in Skheria eine neue Heimat. Das Ackerland konnte hier unter den Sippen großzügig aufgeteilt werden, und bald war auch eine prächtige Stadt erbaut, zu deren Verteidigung Nausithoos von der Landseite her eine Schutzmauer hatte errichten lassen. Nach Nausithoos herrschte nun sein Sohn Alkinoos über die friedliebenden Phaiaken.
Es war die Stunde, in der ein Traum zum Gesicht des nächsten Tages wurde. Die Flügeltüren abgeriegelt, wurde das Schlafgemach der jugendlichen Nausikaa zudem von den Lagern zweier außergewöhnlich anmutiger Mägde verstellt. Die Tochter des Alkinoos aber war an Schönheit den Unsterblichen ebenbürtig.
Einem Lufthauch gleich gelangte Athene ans Kopfende der unruhig träumenden Königstochter und begann nun in der Gestalt von Nausikaas bester Freundin auf sie einzureden: „Aber Nausikaa! Sieh deine Gewänder, wie sie verstreut und schmutzig herumliegen! Und die Wäsche deiner Brüder... – in welchen Gewändern sollen sie dich dereinst einem Bräutigam entgegenführen? Was, wenn schon morgen einer um dich wirbt? Wir sollten gleich heute einen Waschtag einlegen, damit du und deine Brautgeleiter gerüstet sind! Das wird den edlen Männern sicherlich gefallen, wenn du zeigst, dass du auf Reinlichkeit zu achten weißt. Ich helfe dir auch, damit du schneller fertig wirst.“
Alkinoos war gerade auf dem Weg zur frühmorgendlichen Beratung mit den Phaiakischen Fürsten, als Nausikaa ihn an der Türschwelle abfing.
„Ach Papa, lässt du mir bitte den Wagen herrichten, damit ich meine schmutzige Wäsche an den Fluss fahren kann? Auch deine Gewänder und die meiner unverheirateten Brüder haben es dringend nötig, und wer kümmert sich schon darum, wenn nicht ich?“
Alkinoos konnte sich zwar ein Schmunzeln nicht verbeißen, aber er erteilte den Knechten sogleich die entsprechenden Befehle. Auch seine Gemahlin Arete unterbrach bereitwillig ihre Arbeit, um ihre Tochter für unterwegs mit einem Korb voll wohl schmeckender Verpflegung auszustatten.
Währenddessen wurden die Maultiere angespannt, Nausikaa aber trug flugs die Wäsche zusammen und lud sie auf den gesäuberten Wagen.
So dauerte es nicht lange, bis sie die Maultiere aus dem Hof treiben und Arete zurück an die Spindel konnte, an der sie kostbar in Purpur gefärbte Wollfäden zog.
An der Mündung zum Meer hin hatte man das Flusswasser zu einigen Gruben abgeleitet, in denen die Mädchen dank der starken Strömung sehr gut den gröbsten Schmutz aus der Wäsche zu lösen vermochten. Die Maultiere waren wieder ausgespannt und weideten unbeaufsichtigt auf den saftigen Wiesen. Aus der Arbeit machten die Mädchen schon bald einen lustigen Wettkampf, der alle zum Erfolg führte. Nicht lange und sie breiteten die sauberen Wäschteile auf den glatten, sonnenheißen Steinen am Meeresufer aus und vergnügten sich anschließend im Wasser. Frisch gebadet und eingeölt verzehrten sie die mitgebrachten Speisen, um am Ende die Kopftücher abzustreifen und noch ein Ballspiel zu beginnen. Dabei glich Nausikaa in ihren Bewegungen der Jagdgöttin Artemis und wäre einem zufälligen Beobachter sofort ins Auge gefallen. Odysseus aber schlief unweit dieses fröhlichen Lärms, und hätte Athene nicht etwas anderes im Sinn gehabt, wären er und Nausikaa einander nie begegnet.
Es war schon an der Zeit, wieder den Heimweg anzutreten, da warf Nausikaa ein letztes Mal den Ball nach einem Mädchen. Das aber bekam den von Athene gelenkten Ball nicht mehr zu fassen, so dass er unwiederbringlich in den Fluss kollerte.
Odysseus wurde von einem vielstimmigen Schrei der Verzweiflung geweckt. Zaghaft tastete er sich unter den Bäumen hervor. Wer weiß, was das für Wesen sind, die solch einen Lärm veranstalten?
Als Odysseus die Mädchen entdeckte, brach er sich einen belaubten Zweig ab und hielt ihn sich vor das Geschlecht, damit er nicht völlig nackt vor sie treten musste. Wie die Mädchen jedoch den von angetrocknetem Schlamm und Meerschaum entstellten Odysseus sahen, kreischten sie alle laut auf und flüchteten hinter Bäume und Felsen. Alle, bis auf Nausikaa. Ihr hatte Athene Mut eingeflößt, damit sie nicht von der Stelle wich.
Erst wollte Odysseus einem Bittsteller gleich ihre Knie umfassen, dann aber schien es ihm doch besser, sie aus einigem Abstand anzusprechen: „Ich flehe dich an, Herrin, ob du nun eine Göttin oder ein Mensch bist. Noch nie sah ich eine schönere Frau, und ich getraue mich nicht, deine Knie zu berühren.
Mit Müh und Not bin ich dem Meer entronnen, nachdem es mich beinah getötet und nun an diesen Strand geworfen hat. Wahrscheinlich wird auch jetzt mein Leid nach dem Willen der Götter noch nicht zu Ende sein, aber ich bitte dich trotzdem: Hilf mir!
Ich bin fremd hier, darum gib mir irgendeinen Lumpen, vielleicht ein Wickeltuch von deiner Wäsche, und zeige mir den Weg zur nächsten Stadt, auf dass dir die Götter all das geben, was du dir wünschst:
Mann und Haus und dass du mit allem in Einklang leben kannst. Widersacher erblassen vor Neid, und Freunde beglückwünschen das Paar, das, in herzlicher Liebe zugetan, einträchtig sein Haus verwaltet. Mann und Frau aber werden sich selbst zur höchsten Freude!“
„Deine Worte, Fremder, lassen nicht auf einen geringen oder unverständigen Menschen schließen. Zeus teilt uns Menschen die Geschicke zu, wie er es für richtig hält. Hatte er dir bisher ein hartes Los zugedacht, so soll es dir jetzt an nichts mehr fehlen. Wir sind Phaiaken und ich bin Nausikaa, die Tochter unseres Königs Alkinoos.“
Dann rief Nausikaa die Mädchen herbei.
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