»Soweit verstehe ich das, obwohl mein Vater im ersten Fall besonders vom Schulleiter eine Erklärung fordern würde. – Was passiert eigentlich, wenn ich in einer Zeitschleife stecke? Wenn ich beispielsweise im Nebelwald nicht den Weg hinausfinden könnte. Verändert sich die diesseitige Welt dann nicht mehr, bleibt quasi eingefroren, wo sie bei meinem Wechsel in die Anderswelt steht? Das wäre sozusagen erforderlich, damit ich irgendwann mittels Zeitsprung genau zu diesem Zeitpunkt zurückkehren könnte. – Ich glaube, darüber sollte ich bei nächster Gelegenheit mit Dad diskutieren. Vielleicht findet er eine Erklärung. Hm. Vorher müsste ich ihm allerdings von deiner Welt und unseren Abenteuern berichten. Das möchte ich eigentlich nicht, um ihm keine unnötigen Sorgen zu bereiten.«
»Du hast ihm bisher nichts von uns erzählt?« Ainoas Erstaunen ist groß. »Warum nicht? Habt ihr euch seit deinem ersten Abenteuer in der Anderswelt nicht gesprochen? Du sagtest doch, du hättest mit ihm telefoniert.«
»Nicht nur das, er war zum Jahreswechsel sogar hier. Ich wollte aber nicht riskieren, dass er mir weitere Reisen zu euch verbietet. Deshalb sagte ich lieber nichts.« Der schwarze Vogel klappert mit den Augendeckeln. Er setzt mehrfach an, etwas zu sagen, schluckt es dann aber wieder hinunter. Schließlich fragt Anna erstaunt: »Was ist? Welchen Rat willst du mir geben?«
»Woher weißt du?«
»Weil du dir unsicher bist, wie ich darauf reagiere, was dir sozusagen auf der Zunge liegt. Darum zögerst du. Und deshalb glaube ich, es könnte ein Rat sein.«
»Du vermutest richtig. Nun denn, ich will es wagen. Du verhältst dich wie ein kleines Kind. Halt. Bitte warte, bis ich fertig bin. Wenn du ihm nicht erzählst, was du machst, kann er es nicht verbieten. Warum meinst du, würde er das wollen? Könnte er es nicht genauso gut erlauben oder zumindest deine Absicht dabei verstehen?«
»Er würde es nicht erlauben, weil es gefährlich ist und er sich um mich sorgt.«
»Es ist sogar hochgefährlich! Aber du nimmst ihm die Möglichkeit, dir seine Gedanken dazu mitzuteilen. Warum glaubst du zu wissen, dass er mit Verboten reagiert?«
»Weil ich das vermutlich so machen würde! Der Schutz eines lieben Menschen scheint mir wesentlich wichtiger, als ihm den Willen zu lassen.«
»Merkst du nicht, dass du ihm damit seinen eigenen Willen nimmst? Jetzt schau nicht so verwirrt. Du verhinderst, dass er sich dazu äußern kann, weil du etwas fürchtest, was so nicht einmal eintreten muss.«
»Ich weiß aber, wie ich reagieren würde, deshalb gehe ich davon aus, dass …«
»Du gehst davon aus. Richtig. Aber du weißt es nicht! Ist dein Vater sonst so herrschsüchtig, verbietet er dir etwas, ohne darüber eine Diskussion zuzulassen? Nein? Dann ist das, wie du dich verhältst, lediglich ein Beweis dafür, dass du noch ein Kind bist.«
»Das bin ich nicht! Ich bin inzwischen zwölf Jahre alt, weshalb Dad mich hier besucht hat.«
»Jetzt schau nicht so böse. Ich möchte dir nur sagen, dass du mit diesem Verhalten ausdrückst, wie wenig du deinem Vater vertraust. Erzähle ihm alles, was du erlebst. Teile ihm die Gründe für dein Handeln mit und was du dabei fühlst. Selbst wenn er so reagiert, wie du vermutest, bin ich überzeugt, er wird es wichtig finden, dir deine eigenen Entscheidungen zu überlassen. Das bedeutet aber auch, du musst ihm die Möglichkeit geben, seine Meinung zu äußern und sie möglicherweise zu ändern.«
»Ich habe unbegrenztes Vertrauen in ihn. Er hat mich großgezogen, zusammen mit Großmutter. Ich erzählte ihm früher alles, was ich erlebt habe. Das hier ist aber etwas anderes.«
»NEIN! Das ist es nicht! Versprich mir, ihm von deinen Abenteuern bei uns zu berichten. Das machst du am besten gleich, nachdem ich dich von unserer Reise in den Norden zurückbringe.«
Annas Stirn ist gekraust. Sie denkt darüber nach, was Ainoa ihr soeben sagte. Ob sie es will oder nicht, sie kommt zum gleichen Ergebnis wie die Elfe.
»Einverstanden. – Wann soll es losgehen? Am besten jetzt. Da es Nacht ist, fällt mein Fortgehen nicht auf.« Sie springt aus dem Bett und kleidet sich an. Im ersten Moment denkt sie an den Elfenwald und den beständigen Frühling dort, dann erinnert sie sich daran, was die Elfe ihr berichtet hat. Dort liegt inzwischen Schnee! Deshalb zieht sie schnell ihre dicke Daunenjacke an und streckt einen Arm aus. Ainoa flattert darauf und blickt die Freundin mit schräg gelegtem Kopf an.
»Wollen wir? Also los. Portaro!« Es flirrt bläulich, dann ist das Zimmer verlassen.
Anna schrickt zusammen, als sie ein warnendes Grollen vernimmt, das sich aber sofort darauf in ein seltsames Gurren ändert. Wohin hat Ainoa sie beide gebracht? Sie wollten doch in die Anderswelt, in den Elfenwald. Sollten sie stattdessen im Nebelwald gelandet sein und werden jetzt von Wölfen bedroht?
»Du bist offensichtlich noch müde«, vernimmt sie Ainoas Stimme. »Öffne deine Augen, dann siehst du, wo wir sind.« Das Mädchen hatte sie in dem Moment geschlossen, als sie aus ihrem Zimmer verschwanden, vielleicht ausgelöst durch den bläulichen Lichtschimmer.
»Dragon-tan! Hey, mein Freund, lass dich kraulen.« Ein junger Feuerdrache steht im Türrahmen und kommt tollpatschig auf die zwei Neuankömmlinge zu. Er hat eine blaue Haut mit feinem, grünen Muster und rötlich-gelbe Augen, die im Schein von Ainoas Lichtkugel gefährlich wirken. Doch das trügt. Dieser Lindwurm kann zwar tödliches Feuer spucken, ist aber zu Elfen, anders als seine Artgenossen, sehr freundlich. Er reckt den Kopf nach oben und legt ihn auf Annas Schulter, wobei er zufrieden, schnurrende Laute von sich gibt, wie eine überdimensionale Katze. Das Mädchen staunt. Woher kommt die große Zuneigung? Dass sie Saphira gerettet hat, wäre ein möglicher Grund, aber dann müsste Dragon-tan Ainoa das gleiche Gefühl entgegenbringen. Doch die ignoriert er fast. Oder sollte das daran liegen, dass er das Mädchen über mehrere Wochen nicht gesehen hat, im Gegensatz zu ihrer Freundin? Als der Drache jetzt zusätzlich freudig glucksende Laute von sich gibt, weil Anna seinen langen Hals krault, gibt die Elfe ein Zeichen, still zu sein.
»Katherin und Saphira schlafen. Wir sollten sie nicht unnötig aufwecken. Wenn du möchtest, Anna, kannst du den Rest der Nacht im Gästebett verbringen, oder wir machen vorher noch einen Spaziergang durch den winterlichen Elfenwald. Ich bin nicht müde und wäre für den zweiten Vorschlag.«
Beim letzten Mal, als Anna in Katherins Haus war, saß Saphira auf dem Sofa im Wohnzimmer und der Feuerdrache Dragon-tan war, so wie jetzt, mittels Zauber auf etwa Annas Größe verkleinert worden, damit er Platz im Wohnraum fand. Anna weiß, der gegenüberliegende Türeingang führt zur Wohnstube, in der ein großer Schlafkorb für den jungen Drachen steht. Sobald sich die Tochter der Elfenkönigin in dem Raum befindet, weicht er nicht von ihrer Seite, doch die Nacht verbringt er in dem Korb für sich allein. Er fühlt sich als eine Art Wachhund. Saphira hatte das Drachenei gefunden und mitgenommen. Seit der Lindwurm geschlüpft ist, hält er die junge Elfe für seine Mutter, auch wenn er inzwischen weiß, dass sie lediglich eine Art Ersatzmutter ist. Der geschrumpfte Drache wirkt wie ein zu groß gewordenes Haustier und schaut die Besucher mit seinen großen Augen an. Er springt auf die Beine, als sich Anna und Ainoa Richtung Ausgang bewegen und kehrt mit fiependen Geräuschen zum Schlafplatz zurück.
Das Mädchen zieht überrascht die Luft ein, als ihr Blick nach draußen fällt. Sie hatte wider besseres Wissen erwartet, den typischen Frühlingsduft des Elfenwaldes zu riechen und trotz der Nacht ein weiches grünes Dämmerlicht zu sehen. Stattdessen fühlt sie sich, als wäre sie gegen eine Wand gerannt. Überall liegt eine dicke Schneedecke und wirft ungewöhnlich helles Licht zurück. Die Bäume recken ihre nackten Äste in den Himmel, die von einer durchsichtigen Eisschicht überzogen sind. Nur vereinzelt stehen Nadelbäume dazwischen. Sie tragen dicke Schneemützen auf ihren nach unten gedrückten Spitzen. Die feine Duftnote nach Buschwindröschen fehlt, ebenso wie der warme, würzig riechende Hauch nach Moos und Humus.
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