Die junge Frau sah ihm ins Gesicht und lächelte traurig. Offenbar war Lendir nicht der Einzige, der von düsteren Vorahnungen heimgesucht wurde.
»Wollen wir hoffen, dass zumindest die Gefahr hinter uns von uns abgelassen hat«, sagte Uniro schließlich. »Die Dinge, die vor uns liegen, sind in ihrer Ungewissheit schrecklich genug. Sowohl was den Weg angeht, wie die Früchte unserer Leiber. Mögen die Bäume wissen, ob all das hier überhaupt einen Sinn hat.«
Der Waldläufer zwang sich zu einem aufmunternden Lächeln, blieb aber stumm. Er wusste nicht, was er seiner Gefährtin darauf erwidern sollte, zu sehr zerfraßen ihn selbst die Zweifel. Zweifel an sich selbst, aber auch an dem, was er getan hatte. Er war sich nur zu gut darüber im Klaren, dass all dies nichts als eine Verzweiflungstat darstellte. Er und die seinen versuchten vor dem Säuglingssterben davonzulaufen, dass ihr Volk seit Jahren heimsuchte, so einfach war das. Und dabei vielleicht ebenso sinnlos wie naiv. Die Veränderung des Umfeldes mochte helfen, wenn die verderbte Waldmagie der Grund für das Kindersterben war, oder auch nicht. Wenn sie scheiterten, würde nicht einmal das eine Kind aus zehn Geburten leben, aber spielte das dann noch eine Rolle?
»Glaubst du, dass wir das Tal finden werden?«, wollte sie wissen. Ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern.
Das Tal dachte er und seufzte leise. Brúndalur, das braune Tal, oder, in der alten Sprache, Brúncluah, was so viel wie altes Leben bedeutete. Die Wiege ihres Volkes und des ersten Saatkornes des hohen Waldes. Es gab auch Legenden der Menschen darüber, in denen es meist das Rabental genannt wurde. Angeblich, weil ständig riesige Raben über dem Wald im Inneren des Tals kreisten, die Augen des großen Hirten. Das war natürlich Unsinn, denn selbst unter den Silvalum gab es seit tausend Jahren niemanden mehr, der auch nur behauptete, diesen Ort gesehen zu haben. Und doch, wenn diese Wiege ihres Volkes existierte, war es nur folgerichtig, in Zeiten höchster Not dort Zuflucht und Heilung zu erhoffen. An dem Ort, an dem alles begonnen hatte. Selbst wenn es dort enden sollte, war die Reise nicht umsonst gewesen. Alles war besser, als langsam in den Klauen der verdorbenen Waldmagie ihrer Heimat dahinzusiechen und mit anzusehen, wie ihre Säuglinge starben.
Dennoch fürchtete Lendir jeden neuen Tag. Er fürchtete, der Wald könne einfach zu Ende sein. Nur ein langgezogener Waldrand, wie im Westen bei Silvershire, und dahinter eine leere Ebene, nichts als endlose Weite aus Gras oder Steppe. Keine Silberbuchen mehr, keine Waldmagieadern, die den Boden durchzogen, nur noch fremdes Land. Niemand wusste, ob ein Silvalum überhaupt in der Lage war, längere Zeit außerhalb der Ströme der Magie des Waldes zu leben. Es war durchaus möglich, das er sie alle in den sicheren Tod führte, noch bevor das ungeborene Leben in den Leibern seiner Gefolgsleute auch nur eine Chance bekam, so gering diese sein mochte.
»Ich weiß es nicht«, gab er nach einem kurzen Moment zu. »Ich hoffe es. Aber ich glaube, dass alles, was vor uns liegt, besser ist als das, was wir hinter uns gelassen haben. Wie auch immer die Zukunft aussehen mag, oder wie lange sie dauert. Hinter uns liegt nur der Tod.«
Sie hielt inne und legte ihm ihre Hände auf die Brust. Ihre Augen suchten seinen Blick, bevor sie sprach. »Ich spüre und teile Deine Zweifel«, sagte sie ernst. »Abends sind wir nicht allein und die anderen machen sich schon genug Sorgen. Aber ich weiß, dass wir vielleicht in unser Verderben laufen.«
Er öffnete den Mund, doch sie schüttelte den Kopf und lächelte. »Len, du sollst nur wissen, dass ich es nie bereuen werde, dir gefolgt zu sein. Ebenso wenig wie ich es je bereuen werde, deine Gefährtin geworden zu sein. Oder dein Kind zu tragen. Vergiss das nie, falls der Weg noch dunkler wird.«
Er schluckte schwer und spürte, wie seine Augen sich mit Tränen füllten. Unfähig zu sprechen zog er sie fest in die Arme und hielt sie, während er um Fassung rang. Rührseliger Narr schalt er sich, während eine einzelne Träne über seine Wangen lief und sich im Haar seiner Gefährtin verlor. Rührseliger alter Narr. Sie standen für einen viel zu kurzen Moment so da, dann gingen sie weiter, bevor jemand von den anderen sie bemerkte. Ihre Brüder und Schwestern gingen nahezu lautlos um sie herum ihres Weges. Einige stumm, andere flüsternd im gemeinsamen Gespräch versunken. Die Gruppe bewegte sich angesichts der Tatsache, dass sie mehrere hundert Personen zählte, mit gespenstischer Stille.
Lendir hob den Blick zu den Kronen der allgegenwärtigen Bäume. Wenn sich die Beschaffenheit des Bodens während ihrer Reise auch immer wieder geändert hatte, das schützende Blätterdach der Silberbuchen war beständig über ihnen.
Kann der Weg für unser Volk überhaupt noch dunkler werden, fragte er sich. Sie hatten ihre einzigen Verbündeten abgeschlachtet, verloren fast den gesamten Nachwuchs an ein nicht greifbares Grauen und waren nun, nicht zuletzt durch sein eigenes Tun, in sich gespalten. Die Silvalum als Volk mochten den Tiefpunkt ihrer Existenz erreicht haben. Für seine Gefährten auf dieser verzweifelten Reise hingegen lauerten viele unbekannte Abgründe. Die Verfolger mochten sie noch immer einholen, und wenn das geschah, gab es nichts auf der Welt, das sie zu retten vermochte. Lendir und die anderen Waldläufer würden bis zum Tode kämpfen, um die Frauen und das ungeborene Leben in ihnen zu schützen, doch gegen ihre Jäger konnte keine sterbliche Macht bestehen. Noch entmutigender war die Vorstellung, dass sie es nach Osten schafften, das Ende des Waldes erreichten, und wenig später in der Fremde starben, weil sie das Band zur Magie ihrer Heimat verloren hatten. Dass sie verreckten wie Fische, die unachtsam auf trockenes Land geworfen wurden. Oder aber sie blieben am Leben, fanden eine neue Heimat und verloren trotzdem alle Kinder, weil die Verderbnis bereits in ihren Körpern selbst war. Diese letzte Möglichkeit, ebenso so einfach und naheliegend wie unspektakulär, erschien Lendir ob ihrer Banalität als die grausamste.
Warst du eigentlich schon immer so ein feiger, melancholischer Narr, oder ist das ein neuer Wesenszug, kam ihm plötzlich in den Sinn. Als Nächstes grübelst du wieder über den Ursprung und den Grund der Verunreinigung der Waldmagie. Oder des Zornes der alten Götter, den sie bedeuten mag. Solche Abwärtsspiralen im Denken und Fühlen haben vermutlich auch Mirtiro und die Irren, die ihm folgen in den Wahnsinn getrieben. Nur kranke Gemüter konnten Hunderte von Menschen abschlachten und praktisch einen Krieg mit dem Königreich anfangen. Wenn du nicht damit aufhörst, dich selbst zu zerfleischen, kannst du dir gleich die Kehle durchschneiden, dann sind die anderen mit Tasheili alleine besser dran.
Er schloss halb die Augen und rief sich das Bild der Hirtin vor Augen. Ihre schlanke, gerade Gestalt, von der Schwangerschaft noch kaum gezeichnet, genau wie die seiner jungen Gefährtin. Lendir fragte sich, ob die Ruhe und das Selbstbewusstsein, dass die Hirtin ausstrahlte, ebenso vorgetäuscht war, wie es bei ihm der Fall war. Er glaubte es nicht, hoffte es nicht.
Der Schrei, der plötzlich die Luft durchschnitt, war hoch und wimmernd und beendete seine Gedanken wie der Hieb einer Klinge. Die Akustik im Inneren des Waldes war tückisch, doch sein Kopf fuhr instinktiv nach Nordosten und er begann zu rennen. Weitere Geräusche bestätigten ihm, dass er in die richtige Richtung lief. Neuerliche Schreie, Rufe und irgendetwas, das er nicht in Worte fassen konnte. Eine Art Summen, fern und nah zugleich. Er bewegte sich mit dem Geschick und der Schnelligkeit eines Eichhörnchens über den Waldboden, während seine Hände ohne sein Zutun Bogen und Köcher fanden. Er spürte mehr als er sah, wie die anderen auseinanderstoben. Alle anwesenden Männer, wie auch einige der Frauen, waren aktive oder ehemalige Späher, im Kampf ausgebildete Waldläufer. Lendir sah, wie dutzende von Bögen mit aufgelegten Pfeilen in die Richtung schwenkten, aus denen der Lärm kam.
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