1 ...7 8 9 11 12 13 ...23 Die beiden Männer hatten das Mittschiff hinter sich gelassen und stiegen nun die hölzernen Stufen zum Heckaufbau hinauf. Wieder an der Reling angekommen, standen sie nebeneinander im kalten Seewind und schauten in die zerwühlte nordische See, die sich vor ihnen erstreckte.
»Und diese wundervolle Reise«, seufzte Alfr nach einer Weile, »darf ich von nun an jedes verdammte Jahr meines Lebens machen. Auch wenn ich es grundsätzlich genieße, auf See zu sein, ist das keine besonders erfreuliche Aussicht. Gewöhnt man sich eigentlich je an diesen Schwachsinn?«
»Nay, es ist jedes Frühjahr wieder aufs Neue zum Kotzen«, antwortete Varg lächelnd, »jedenfalls geht mir das so. Aber falls es dich tröstet, ich teile dein Leid. Beide haben wir auf mittlere Sicht keine Söhne, auf die wir diese Pflicht abwälzen können.« Mit feierlicher Stimme fügte er hinzu: »Der Herzog oder sein ältester Sohn nimmt an den heiligen Festlichkeiten teil. So sei es geschrieben und verkündet im Reiche Stennward.«
Alfr warf ihm einen amüsierten Seitenblick zu.
»Teilen wir diese unerfreuliche Erfahrung etwa?«, wollte er wissen.
»Gewissermaßen«, nickte Varg. »Mein alter Herr hat mich mit vierzehn einmal mit deinem Vater und dem Großvater von Bjorn zusammen losgeschickt. Ich war ganz alleine der Repräsentant von Ulfrskógr und hätte mir am Hof beinahe in die Hose gemacht. Danach hatte ich allerdings noch ein paar Mal Ruhe, bis Vater gestorben ist. Nun sind es fast zwanzig Besuche und es ist jedes Mal aufs Neue wieder ebenso eine Freude, wie es eine Ehre ist, das kann ich dir versichern.«
Die letzten Worte des Jarls troffen so sehr vor Sarkasmus, dass Alfr ein leises Glucksen nicht unterdrücken konnte.
»Habt ihr nie versucht, aus dieser Sache herauszukommen?«, fragte er schließlich. »Ich meine, ich bin mir schon bewusst, wie wichtig es nach dem Krieg war, die Festländer bei Laune zu halten. Aber nun herrscht seit Jahrzehnten Frieden, es gibt keine Grenzstreitigkeiten und auch sonst kaum Reibungspunkte.«
»Nay, darum geht es auch schon lange nicht mehr«, erklärte Varg. »Wir haben im Laufe der Jahre, natürlich nicht zuletzt durch das Grau, eine sehr viel größere Unabhängigkeit erlangt, als uns der Friedensvertrag je zugesichert hat. Das fängt schon bei der Kirche an, die ja auch über einen erheblichen Einfluss verfügt.
König Randolf ist es, wie ich ihn einschätze, im Grunde scheißegal, was wir auf unserer Insel machen. Solange wir uns ruhig verhalten und ihm jedes Jahr sein Eisen liefern, kümmern ihn die Angelegenheiten von Norselund nicht. Er mag ahnen, wie eng unsere Familien zusammenarbeiten und die Herzöge werden ihm ab und an wegen der Privilegien in den Ohren liegen, die er den Barbaren aus dem Norden zugesteht. Aber was schert ihn das schon. Er weiß ganz genau, dass er uns nicht zu fürchten braucht, weil uns das Festland einen Dreck interessiert. Schließlich ist auch der letzte Krieg nicht von uns ausgegangen, sondern von seinem Großvater.
Was die Kirche angeht, verhält es sich im Grunde genauso. Bei der großen Schlacht sind damals fast alle Druiden und anderen Zauberkundigen der Insel getötet worden. Das war ja für sie der Hauptgrund, den Krieg so eifrig zu unterstützen. Der Rest ist, von Darane mal abgesehen, ebenfalls längst tot. Das Grau hat zwar verhindert, dass ihre Religion bei uns wirklich Fuß gefasst hat, aber unsere Väter sind offiziell konvertiert. Was auf der Insel passiert, ist den Verantwortlichen der Kirche heute ebenso gleichgültig wie seiner Majestät. Die regelmäßigen Besuche beim Lebensfest sind unser Zoll, in Respekt gezahlt, und damit geben sie sich zufrieden.
Wir haben also sowohl mit dem König wie mit der Kirche ein stilles Abkommen, das uns ein geradezu unverschämtes Maß an Freiheit gewährt. Der Preis dafür ist diese Fahrt. «
»Ich verstehe, was du meinst«, lächelte Alfr dünn.
»Auch wenn sich diese Wochen wie verschwendete Lebenszeit anfühlen«, fuhr Varg fort, »und das tun sie immer, sind sie doch ein wichtiger Dienst für unser Land und Volk. Der Pomp bei Hof, der Empfang beim König, das Treffen mit den anderen Herzögen und die Gottesdienste sind nur Mummenschanz.
Obgleich dein Vater und ich uns manches Mal gefragt haben, ob sie nicht nur deswegen auf unserer Anwesenheit bestehen, weil sie hoffen, dass uns eines Tages bei der Überfahrt das Meer holt.«
»Na, dann hoffen wir mal, dass die See ihnen diesen Gefallen heuer nicht tut«, sagte Alfr. »Von meinem Wunsch abgesehen, Falkehaven wiederzusehen, werden wir mit der Nahrung eine wertvolle Fracht geladen haben.«
Der Blick beider Männer richtete sich in Bugrichtung zum Meer. Die Flotte, die hinter der Falkenkralle folgte, bestand aus zweiundzwanzig Schiffen, wenn man die Seebär von Bjorn nicht mitrechnete. Das war die größte Handelsflotte, die seit dem Krieg die Reise über das Meer angetreten war.
Varg und Stian hatten beschlossen, das Risiko einzugehen, ein gewisses Aufsehen zu erregen, indem sie gewaltige Mengen an Nahrung einkauften. Schließlich konnte man ebenso gut ein paar schlechte Ernten gehabt oder eine Kornfäule erlitten haben. Die Tatsache, dass sich der Fischbestand der Insel durch die Verderbtheit in Gefahr befand, war eine Möglichkeit, die sich nicht jedem erschloss. Von dem Umstand, dass ein Jarltum seine Wintervorräte aufgebraucht hatte, um ein fremdes Volk durchzufüttern, ganz zu schweigen.
Vor der Küste der Nordmark würde man die beiden Flotten teilen. Der Jarl von Krakebekk legte dann die letzten Seemeilen bis nach Padermünde an Bord der Falkenkralle zurück. Während die Kralle wie jedes Jahr in der großen Hafenstadt einlief, führte die Seebär die andere Hälfte der Flotte nach Südwesten. Diese Schiffe würden am unteren Ende der Südmark damit beginnen, jedes Stück lagerbare Nahrung aufzukaufen. Die Schiffe im Norden würden das gleiche tun, dabei aber an der Küste der Ostmark anfangen. Das entsprach der Strecke, die für gewöhnlich zwei Handelsschiffe abklapperten, die Alfr zweimal im Jahr losschickte. Sie besorgten an verschiedenen Häfen Seile, Segeltuch und Hanf für den geheimen Bau der neuen Kriegsschiffe in der verborgenen Werft an der Westküste von Norselund. Für die Flotte stand nun neben diesen Dingen auch Getreide, Mehl, Fett, Öl, Dörrfleisch und Trockenfisch auf der Ladeliste.
»Das wird an gewissen Stellen einiges an Aufsehen erregen. Genau das, was ich all die Jahre zu verhindern versucht habe«, meinte Alfr. »Allein die Tatsache, dass wir fünfmal so viel Nahrung kaufen wie sonst, von einer größeren Menge an Seilen und Segeltuch ganz zu schweigen.«
»Mag schon sein«, gab Varg zu, »in vollem Umfang werden sie es aber erst merken, wenn wir längst wieder weg sind. Nämlich dann, wenn ihnen klar wird, dass wir im Süden genauso viel gekauft haben wie im Norden, also zwei Flotten am laufen hatten.«
Der Jarl lächelte den jüngeren Mann an. »Bis dahin sind wir fast schon wieder zu Hause. Oder zumindest weit auf See. Niemand wird eine Reise von mehreren Wochen unternehmen, um uns dumme Fragen zu stellen. Und wer weiß schon, was in einem Jahr passiert. Wahrscheinlich wird kein Hahn mehr danach krähen, bis das Packeis nächsten Frühling wieder schmilzt. Und selbst wenn«, er zuckte mit den Schultern, »hatten wir eben eine schlechte Ernte oder ein Herbststurm hat Falkehaven getroffen.«
»Ich wünschte, es wäre wirklich nur eine schlechte Ernte oder ein Sturm gewesen«, murmelte Alfr mit düsterer Miene. Die missgebildeten Fische waren etwas, das ihn in seinen Träumen verfolgte. Dabei spielte die verstörende Andersartigkeit der Tiere selbst kaum eine Rolle. Die Konsequenzen, die dem Verlust der Fischerträge folgen würden, waren es, die ihn zermürbten. Er hatte Tage damit verbracht, Informationen zu sammeln und Berechnungen anzustellen, nachdem die Verderbnis bei einigen Seelachsen festgestellt worden war. Er war zu dem Ergebnis gekommen, dass inzwischen gut siebzig Prozent der Versorgung des Volkes mit Nahrungsmitteln auf Norselund vom Fischfang abhingen.
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