Ich ging noch näher. Der Overall war kein Overall, sondern ein Shorty, ein Tauchanzug mit kurzen Ärmeln. Zumindest konnte ich mir jetzt vorstellen, wie unser Amigo hier wieder rauskommen wollte. Das machte mir Hoffnung. Der Kerl war ein Profi. Durchdachter Angang, keine wilde Ballerei oder verzweifelte Flucht mit Geiselnahme. Der wollte seinen Plan durchziehen und wieder verschwinden. Es musste keine Toten geben.
Ich war jetzt auf fünf Meter an José herangekommen und blieb stehen. Die 45er an seinem Schädel war eine Smith & Wesson Governor, ein kurzläufiger Colt. Enorme Mündungsenergie. Amigo überließ offenbar nichts dem Zufall. Wieder fiel mir die helle Hand auf, die den gummierten Griff des Revolvers umschloss. Nein, das war keine helle Haut, das war ein Tattoo. Mit weißer Tinte war irgendwas Großflächiges auf den Handrücken von Amigo gestochen, vielleicht ein Kaninchen. Amigo aus dem Wunderland.
Das Kaninchen machte einen unvermittelten Satz nach oben und mit ihm die 45er, weg von Josés Schädel. Also doch Dirty Harry. Leider. Denn was die unüberlegte Tat Josés auslöste, waren Sekunden völligen Chaos. José warf sich auf den Boden. Die Kollegen ballerten in Richtung Amigo. Die Typen auf dem Weg zum Pick-up verschwanden mit deutlichem Desinteresse an ihrem Fahrzeug in der Dunkelheit. Amigo schoss seinen Colt leer. Danach kam seine Walther P99 zum Einsatz, während er im Taucheranzug Richtung Kaimauer lief und im Hafenbecken verschwand.
Woher ich das mit der Walther wusste? Eine ihrer 9 mm-Projektile steckte in meiner rechten Schulter, genauer in meiner seitlichen Brustkorbarterie. Wenigstens hatte Amigo zuerst seinen Colt leer geschossen, bevor er mit seiner deutlich kleineren Restmunition meinen Körper perforierte.
José Solá hatte immer noch Schuldgefühle mir gegenüber. Wir hatten uns schon im Krankenhaus ausgesprochen und es war alles gesagt. Ich hatte ohnehin nie geglaubt oder gedacht, dass José meinen Beinahe-Tod hätte verhindert können. Oder das er ihn sogar irgendwie herbeigeführt hätte. Trotzdem blieb ein Schatten über unserer Beziehung. Er gab sich die Schuld und ich wusste das.
Wir waren in den Jahren eigentlich nie mehr als Arbeitskollegen gewesen. Nicht unbedingt befreundet. Trotzdem verband uns mehr als kollegiale Vertrautheit. Gegenseitige Loyalität bestimmt, sich aufeinander verlassen können natürlich auch. Insbesondere aber gegenseitige Achtung und Akzeptanz. Das hierarchische Gefälle zwischen dem Hauptkommissar und seinem Inspektor bestand bei uns nur auf dem Papier. Wir sind nie auf einer formalen Ebene miteinander umgegangen. José würde unliebsame Aufgaben oder Verantwortlichkeiten nie versuchen mir zuzuschieben, obwohl er das manchmal hätte tun könnte. Ebenso wenig würde ich in José je den Empfänger von Dienstanweisungen sehen. Eigentlich basierte unsere Zusammenarbeit immer auf einem nicht ausgesprochenen, aber spürbaren miteinander zu tun haben wollen. Jedenfalls bei der Arbeit.
Im privaten Bereich gab es ein solches unausgesprochenes wie spürbares Übereinstimmen auch, nur im umgekehrten Sinne. Da hatten wir nämlich gegenseitig nichts miteinander am Hut. Keiner von uns beiden hatte auch je nur versucht, mehr aus dem berufsmäßigen Verhältnis machen zu wollen. Vielleicht lag es auch an unseren gegensätzlichen Lebensweisen und Charakterzügen. Ich bewunderte José manchmal dafür, dass er sich mit Dingen abfinden konnte, die zum Himmel stanken. Nicht, dass er unengagiert oder desinteressiert gewesen wäre. Er hatte einfach ein Grundverständnis, Mist Mist und Idioten Idioten sein lassen zu können. Ich konnte mich dafür mindestens gleich zweimal ärgern oder aufregen. So war es José dann eben auch vergönnt, abends eher unbelastet an Heim und Herd, sprich zu Frau und Kindern heimzukehren. Nicht, dass ich wie er hätte leben wollen. Mir gefiel das Junggesellendasein in meiner Zweizimmerwohnung im Zentrum Valencias ganz ausgezeichnet. Es verband uns in diesem Sinne aber wenig.
Ich warf die Tür meiner Wohnung hinter mir zu und stieg die Treppe hinunter. Der Himmel war wie immer strahlend blau und die Sonne schien. Jetzt, um 9:00 Uhr morgens, stand sie aber noch zu tief, um die Schatten aus der Calle Jofrens zu vertreiben. Und so war es sogar etwas kühl, als ich in Richtung Horchateria El Siglo aufbrach.
Die Calle Jofrens war keine fünf Meter breit. Rechts und links erhoben sich überwiegend Wohngebäude aus vergangenen Jahrhunderten. Kleine Balkone und gusseiserne Laternen an den Hauswänden ließen die kleine Gasse noch schmaler wirken. Ich ging vorbei am Torbogen, der in den Innenbereich der Plaza Redonda führte und stand nach einhundert Metern Fußweg vor der Horchateria. Die Sonne schien hier ungehindert von rechts über den großen Plaza de la Reina auf die Tische und Stühle des Cafés.
"Buenas dias, José." Ich setzte mich zu ihm. "Schon bestellt?"
"Buenas, Vic. Bin gerade gekommen. War eine gute Idee, vorher noch einen Kaffee zu trinken."
"Ich brauche etwas zum Frühstück, du hattest wahrscheinlich schon?"
"Klar, Marisa lässt mich doch sonst nicht aus dem Haus."
Ich bestellte Churros für mich und zwei Kaffee für uns.
"Als du gestern angerufen hattest, war der Chef gerade weg. Wichtiger Termin im Rathaus. Dabei hatte er vorher bestimmt eine halbe Stunde mit Rica telefoniert. Muy importante el caso, so aufgeblasen wie der Alte gestern durch unsere Büros gesegelt ist, ganz breite Brust."
"Mal sehen, wie er heute drauf ist. Rica jedenfalls geht fest davon aus, dass wir ihr Yago Sánchez aus dem Weg räumen. Sie wird Pablo eingetrichtert haben, was wir uns gleich anhören müssen. Bin nur mal gespannt, wie weit der alte Opportunist geht, ist ja immerhin auch Polizist."
"Du siehst das wie immer zu schwarz. Rica macht ihren Job, Pablo macht seinen Job und wir machen unseren. Er hat noch nie verlangt, etwas Ungesetzliches zu tun. Wenn es tatsächlich eine Anschuldigung gegen Yago Sánchez gibt, gehen wir ihr nach. Und wenn etwas dran ist, nehmen wir ihn hoch. Ist doch egal, wenn sich hinterher noch jemand anderes freut."
Typisch José, immer entspannt. Ich sah das anders. Anschuldigungen konnte man immer und gegen jeden aufstellen. Rica und mit ihr Pablo wollten uns vor ihren Karren spannen. Jeder mit seinem ganz persönlichen Vorteil. Ich allerdings hatte keine Lust, mich für irgendein Spielchen benutzen zu lassen. War auch typisch, und zwar für mich. Immer mit Ethos und Moral unterwegs. Konnte ich nicht auch mal Fünfe gerade sein lassen? Ich würde mich ärgern und schon das ärgerte mich.
Moralapostel war ich bestimmt nicht. Allerdings konnte ich mich schon immer schwer damit abfinden, Dinge zu tun, hinter denen ich nicht stand. Wie oft hatte ich mir schon überlegt, den Polizeidienst hinzuschmeißen. Die in meinem Job vorherrschende Dichte von Politik, Geklüngel, Untertänigkeit und Beamtentum zu unterbieten, konnte doch nicht so schwer sein. Und eigentlich hatte ich doch längst schon den Plan dafür in der Schublade. Mein alter Freund Salva hatte mich schon so oft gefragt, warum ich nicht in seiner Detektei mitarbeiten würde. Wir waren gute Freunde und sein Laden lief einigermaßen, jedenfalls gut genug für uns beide. Trotz der vielen Zeit zum Nachdenken im Krankenhaus war ich aber wieder angetreten. Wenn ich wüsste warum, wäre ich einen Schritt weiter.
*
"Setzen Sie sich, meine Herren."
Pablo Villar war kein großer Mann. Nicht körperlich und für mich auch nicht im übertragenen Sinne. Dafür war es sein Büro umso mehr. Ein riesiger Schreibtisch nahm den größten Teil des hinteren Raumes ein. Er war gesäumt von zwei deckenhohen Flaggen, links Comunidad Valencia, rechts Cuerpo Nacional de Policia. Pablo, auf einem Ledersessel mit breiter Lehne sitzend, nahm sich dazwischen aus wie ein Zwerg. Als Jefe de División trug er meistens zivil, so wie José und ich immer. Heute wollte er uns unübersehbar seine Autorität spüren lassen und hatte seine Uniform angezogen. Wie alles mit offiziellem Anstrich in Spanien nicht unbedingt schlicht. Er unterstrich seinen Anspruch durch eine straffe Haltung und einen entschlossenen Gesichtsausdruck - und durch den Verzicht auf Smalltalk.
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