Fräulein Fiebiger tat, als merke sie das Verhalten nicht, sie fragte vielmehr die Kinder über Haustiere und Vögel aus, wollte wissen, wer daheim einen Kanarienvogel hatte oder wo Haustiere wären.
Die drei anderen beteiligten sich recht lebhaft, nur Bärbel blieb stumm.
»Nun, Bärbel, weißt du nicht auch ein Haustier? Hund und Katze sind schon genannt. – Wer von euch kennt noch ein Tier, das viel in der Nähe der Menschen lebt?«
»Ein Esel!«
»Gut, – und weiter?«
Die Abcschützen schwiegen.
»Ich denke an ein Tier«, fuhr Fräulein Fiebiger fort, »das immer unsauber ist, das häßliche Laute ausstößt und das sich sehr oft aus seiner Behausung entfernt und, wenn es ihm möglich ist, auf dem Grundstück des Nachbars umherläuft. – Nun, Kinder, was ist das?«
»Ich weiß«, rief Bärbel wie elektrisiert.
»Das ist nett, daß du auch etwas weißt. – Nun?«
»Der Emil!«
»Nicht doch, Bärbel, – der Emil ist doch kein Tier. – Ich meine das Schwein.«
»Der Emil ist ein Schwein«, beharrte die Kleine, »das sagt unser Felix immer.«
»Ein Mensch kann niemals ein Schwein sein, Bärbel. Der Emil kann wohl einmal sehr schmutzig aussehen, aber ein Schwein ist er deshalb nicht, und wenn das dein Felix sagt, hat er unrecht.«
»Der Felix hat aber nicht unrecht«, sagte Bärbel, »der Felix ist groß und weiß alles.«
Fräulein Fiebiger warf einen verzweifelten Blick auf das kleine Mädchen, das solch einen störrischen Eindruck machte; aber sie hoffte durch Nachsicht und Güte auch diese kleine Widerspenstige zu zähmen.
Während sich die anderen drei an den Fragen ziemlich lebhaft beteiligten, saß Bärbel gelangweilt auf ihrem Platze und untersuchte das Tintenfaß. Der klappende Deckel bereitete ihr recht große Freude, und schließlich ging es dauernd: klapp, klapp.
»Halte deine kleinen Finger still, Bärbel, und laß das Tintenfaß in Ruhe.«
»Dir paßt auch gar nichts«, platzte Goldköpfchen ärgerlich heraus, »ich spiele doch!«
»Du hast aber gut aufzupassen und nicht zu spielen.«
»Mir gefällt es aber nicht«, klang es zurück.
»Sitze jetzt ruhig und gib acht.«
Endlich läutete es. Fräulein Fiebiger war froh, daß diese erste und anstrengende Stunde nun glücklich vorüber war.
In der Pause taute Bärbel auf. Als es dann aber wieder an den Unterricht ging, zeigte sich erneut die Falte auf der Stirn des Kindes.
Wieder erschien Fräulein Fiebiger, und Bärbel machte ein recht enttäuschtes Gesicht.
»Kommst du schon wieder?«
»Natürlich, mein Kind, ihr sollt doch allerlei bei mir lernen und klug werden.«
Da man sich in der zweiten Stunde mit Zeichnen beschäftigte, wurde nicht gar zu viel gefragt, weil jedes Kind eifrig mit dem Bleistift beschäftigt war. So verging auch diese Zeit rascher. Es läutete, Bärbel packte hastig zusammen, wurde aber von Fräulein Fiebiger zurückgehalten.
»Einen kleinen Augenblick müßt ihr noch warten. Weil ihr heute so brav gewesen seid, sollt ihr noch eine Extrafreude haben.«
Die Kleinen horchten gespannt auf.
»Nun, wer kann sich wohl denken, was euch jetzt für eine Freude bereitet wird?«
»Willst du uns die Freude machen?« fragte Bärbel.
»Fräulein Greger, eure Schulvorsteherin.«
Bärbel strahlte. »Sie soll die Schule zumachen, und du sollst uns nicht weiter unterrichten.«
»Du wirst die Schule noch sehr liebgewinnen, Bärbel. – Nun aber gebt schön acht, da kommt Fräulein Greger.«
Die Schulvorsteherin betrat das Zimmer, sie trug vier große, bunte Tüten im Arm.
»O«, rief Hanna begeistert, »ich kriege von meiner Tante eine noch viel größere Tüte!«
Fräulein Greger sprach einige Worte zu den Kleinen, sie wurde dabei von Georg unterbrochen.
»Schenkst du uns nun jeden Tag eine solche Tüte, wenn wir herkommen?«
»Du mußt ›Sie‹ sagen, Georg.«
»Schenkst du uns jeden Tag eine Tüte, wenn wir hierherkommen, – sie?«
»Nein, nur heute zum ersten Schultage, damit ihr die Schule liebbekommt, gern hineingeht und ein liebes Andenken habt.«
Dann reichte Fräulein Greger jedem Kinde eine Tüte.
Bärbel stand ein Weilchen nachdenklich vor der Schulvorsteherin, betrachtete die Tüte, sann einige Augenblicke angestrengt nach, dann streckte sie beide Arme, die das Geschenk hielten, der Vorsteherin entgegen.
»Nimm sie, ich geb’ sie dir wieder, ich bleibe lieber zu Hause.«
»Aber, Bärbel, – hat es dir denn nicht gefallen?«
Die Kleine schüttelte den Kopf. »Nein, – sie will immer recht haben und mischt sich in alles ein.«
»Wenn es dir auch heute noch nicht gefallen hat, mein Kind, wird es dir morgen schon besser behagen. Nimm die Tüte, und nun dürft ihr heimgehen.«
Zögernd nahm Bärbel die Gabe wieder zurück. Sie freute sich nicht darüber, denn der Gedanke, daß sie morgen wiederkommen müßte, daß sie alle Tage auf der Schulbank sitzen solle, verleidete ihr den Genuß an den Süßigkeiten.
Zögernd folgte sie den davoneilenden Kindern. Draußen, vor der Schule, stand Frau Wagner, die ihr Kind lächelnd in Empfang nahm.
»Nun, mein liebes Goldköpfchen, wie hat es dir denn gefallen?«
»In der Pause war es ganz hübsch«, erwiderte das Kind. Und froh eilte es zu seinen Spielsachen.
Obwohl Bärbel schon seit mehreren Wochen die Gregersche Schule besuchte, fand sie keinen Gefallen an dem Unterricht. Vergeblich versuchten die Eltern, Bärbel anzufeuern; die Kleine setzte allen Ermahnungen eigensinnigen Widerstand entgegen. Zwar hatte sie kaum Schularbeiten zu machen, dennoch wurde ihr das Wenige schon zu viel, und in den Schulstunden dachte die Kleine an hundert andere Dinge, nur nicht an das, was Fräulein Fiebiger vortrug.
Am interessantesten war es für Goldköpfchen, wenn irgendeine Stunde gemeinsam mit den größeren Schülerinnen abgehalten wurde. Da Fräulein Greger nicht genügend Lehrkräfte anstellen konnte, da ja auch die einzelnen Klassen sehr klein waren, wurden manche Stunden doppelt belegt. Während die Großen zeichneten oder Klassenaufsätze schrieben, auch französische oder englische Übersetzungen machten, wurden die Abcschützen im Rechnen, Lesen oder Schreiben unterwiesen, und wenn die Kleinsten schrieben, hatten wieder die Größeren irgendeinen mündlichen Unterricht.
Da gab es für Bärbel mancherlei zu erlauschen, und sie vergaß dann ganz, daß sie selbst Zahlen oder Buchstaben zu schreiben hatte. Das Kind kehrte oft mit den merkwürdigsten Anliegen heim, und erst gestern hatte sich Herr Wagner wieder das Lachen verbeißen müssen, als er von Bärbel erfuhr, daß eine der älteren Schülerinnen an die Lehrerin die Frage gestellt habe, was ein Autodidakt sei.
»Vati, das Fräulein hat gesagt, ein Autodidakt sei jemand, der sich selbst unterrichte. Ich möchte auch ein Autodidakt sein und nicht mehr in die Schule gehen. Ich unterrichte mich selbst!«
»Da würde etwas Nettes herauskommen«, sagte Herr Wagner, »im übrigen ist es viel besser, du wirst unterrichtet. Du bist ohnehin ein kleiner Faulpelz. Wie ich gehört habe, sitzest du als Letzte. – Kannst du denn nicht auf den ersten Platz kommen?«
»Nein, Vati«, entgegnete Bärbel treuherzig, »das kann ich nicht.«
»Warum denn nicht?«
»Da sitzt doch schon eine!«
»Dann mußt du eben so fleißig sein, daß du über diese eine kommst.«
»Das geht auch nicht, Vati, da ist doch keine Bank mehr.«
»Du sollst eben so fleißig lernen, daß dich die Lehrerin zur Ersten der Klasse macht.«
Bärbel senkte das Köpfchen und sagte nichts mehr.
»Nun, Goldköpfchen, willst du mir versprechen, einmal zu versuchen, die Erste zu werden?«
»Nein, Vati, – das Fräulein hat gesagt, wir sollen immer bescheiden sein und uns nicht verdrängen. Ich bin bescheiden.«
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