»Ich muß dich heute leider ernstlich strafen, Bärbel. Willst du mir denn gar keine Freude machen?«
»Nein«, klang es trotzig zurück, »Sie machen mir auch keine Freude.«
»Hast du mich denn gar nicht lieb, Kind?«
»Nein.«
»Das ist aber recht traurig für mich!«
»Dann brauchen Sie ja nicht wiederzukommen.«
Fräulein Fiebiger ließ den kleinen Trotzkopf stehen und wandte sich den anderen Kindern zu. Aber bald merkte sie, daß die Gesichter der Schüler immer vergnügter wurden, und schließlich lachte Georg laut auf.
»Was gibt es denn?«
Der Knabe wies nach der Ecke, in der Bärbel stand, den Rücken den Kindern zugekehrt. Die blumige Tapete hatte es der Kleinen angetan. Nun fuhr sie mit dem Fingerchen auf den Ranken entlang, reckte sich mehr und mehr, und es war ein gar drolliger Anblick, den kleinen Finger wie wild hin und her fahren zu sehen.
»Was machst du denn, Bärbel?«
»Ich spiele mit mir.«
»Du sollst in der Ecke stehen und dich schämen.«
»Ich möchte mich lieber zu Hause schämen.«
»Wenn du immer so unartige Antworten gibst, Bärbel, werde ich es deinen Eltern melden, damit du strenge Strafe bekommst.«
Da fuhr das Kind wie vom Blitz getroffen herum und schaute die Lehrerin mit sprühenden Augen an. Sie vergaß, wie man die Lehrerin anzureden halte, und stieß leidenschaftlich erregt hervor: »Klatschen willst du auch noch?«
»Bärbel, du bist heute sehr unartig!«
Die Kleine drehte sich wieder zur Wand, der Trotz verschloß ihr den Mund. Als ihr das Eckestehen zu lange dauerte, kamen doch die Tränen, und vom Winkel her hörte man das dauernde leise Schluchzen und das häßliche Ziehen der Nase.
Fräulein Fiebiger trat zu der Weinenden: »Hast du ein Taschentuch bei dir, Bärbel?«
»Ja, – ich habe ein Taschentuch, aber ich borge es Ihnen nicht.«
»Dann benutze es! Ein artiges Kind zieht nicht mit der Nase, und es trocknet sich die Tränen.«
Darauf entlud Bärbel all ihren Grimm in trompetenartigem Schnauben, worüber die anderen drei furchtbar lachten und in die gleiche Musik mit einstimmten.
»Blas’ doch mit!« rief Georg der Lehrerin zu.
»Jetzt hört sofort damit auf«, gebot Fräulein Fiebiger streng, »man glaubt fast, man sei im Zoologischen Garten.«
Damit war das Signal zu neuem Aufruhr gegeben. Georg imitierte ein Tier nach dem anderen, die anderen lachten dazu. Besonders der Hahn, den der kleine Knabe täuschend nachahmen konnte, erregte hellstes Gelächter, bis sich die Tür zum Nebenzimmer öffnete und Fräulein Greger über die Schwelle trat.
»Was ist denn hier los?«
Georg krähte ihr entgegen, und auch Bärbel hüpfte vor Entzücken von einem Fuß auf den anderen. Man lärmte der Schulvorsteherin entgegen, daß man Zoologischer Garten spiele, und Fräulein Greger hatte Mühe, die Wogen der Begeisterung wieder zu dämpfen.
»Wer steht denn da in der Ecke?«
Bärbel wurde ein wenig rot, denn vor den strengen Augen der Schulvorsteherin hatte die Kleine doch Respekt.
»Was hast du denn getan, Kind?«
Mit ausgestrecktem Finger wies Bärbel auf Fräulein Fiebiger. »Sie hat es getan!«
»Und warum stehst du in der Ecke?«
Da keine Antwort erfolgte, mischte sich Fräulein Fiebiger ein. »Sage uns, Bärbel, was du getan hast und weshalb ich dich in die Ecke stellte. Wir möchten es wissen.«
Einige Augenblicke starrte die Kleine Fräulein Fiebiger an, dann kamen erneut die Tränen, und zornig stieß die Kleine hervor: »Wenn Sie nicht mal wissen, warum ich in die Ecke gestellt werde, kann ich es doch auch nicht wissen!«
Fräulein Greger versuchte zu beschwichtigen. »Setz’ dich nun wieder auf deinen Platz, Bärbel, und sei von nun an artig und aufmerksam.«
Seit diesem Augenblicke hatte die junge Lehrerin bei Bärbel vollkommen verspielt. Die Kleine sah in ihrer Lehrerin die Peinigerin. Das trug natürlich nicht dazu bei, den Lerneifer zu erhöhen, es kam auch noch der Trotz dazu, der Bärbel häufig den Mund fest verschloß.
Schließlich sah sich die Schulvorsteherin genötigt, Bärbels Eltern aufzusuchen, um dort einmal nachzuforschen, aus welchem Grunde die Kleine gar so störrisch sei.
Frau Wagner war aufs höchste bestürzt und nahm sich vor, Bärbels Schulaufgaben alltäglich zu überwachen. So ging es nicht weiter. Wenn man das Kind nicht energisch zur Arbeit anhielt, würde die Kleine nicht vorwärtskommen, und man bestärkte nur deren Trägheit.
Frau Wagner machte daher dem Gatten davon Mitteilung, der sofort die faule Tochter zu sich rief.
»Ich höre ja schöne Sachen über dich, Bärbel! Warum hat dich Fräulein Fiebiger heute bestrafen müssen?«
Sehr scheu schaute die Kleine den Vater an, der so streng sprach.
»Vati …«
»Nun?«
»Darf sie mich denn bestrafen für etwas, was ich gar nicht gemacht habe?«
»Nein, das darf sie natürlich nicht, aber das tut Fräulein Fiebiger auch nicht.«
»Doch, Vati, das macht sie immer.«
»Wofür hat sie dich denn bestraft?«
»Weil ich die Schularbeiten nicht gemacht habe.«
»Da hat sie das größte Recht dazu. – Sie sollte dir einmal eine Portion Schläge verabfolgen. – Willst du denn durchaus immerzu Schläge haben?«
»Nein, Vati, das will ich nicht.«
»Du mußt doch vernünftig werden, Bärbel, du mußt einsehen, daß es mir und der Mutti weh tut, wenn ich dich strafen muß.«
»Weh mag es dir schon tun, Vati, aber nicht an derselben Stelle wie mir.«
»Im Herzen tut es mir weh, und das ist noch viel schlimmer, als wenn ich dir das Hinterleder klopfe. – Höre ich noch ein einziges Mal Klagen über nicht gemachte Arbeiten, so setzt es Schläge, an die du drei Tage denken wirst.«
Bärbel wurde sehr kleinlaut. Es kannte die strafende Hand des Vaters, da war nicht zu spaßen.
»Vati – es wäre doch besser gewesen, wenn ich nicht zur Schule gekommen wäre, dann hättest du dich nicht so geärgert.«
»Willst du wirklich dumm bleiben und nicht einmal lesen und schreiben können? Was soll denn dann aus dir werden?«
Das Kind seufzte tief. Es empfand das Leben als eine drückende Last, und die Schule war das schrecklichste aller Übel.
Wie schnell doch die Zeit verging! Frau Wagner saß am Fenster des Wohnzimmers und schaute dem Spiel der beiden Zwillingsknaben zu. Wie deutlich erinnerte sie sich noch an jene Zeit, in der die Kleinen zur Welt kamen. Das waren sechs Jahre her, und Martin und Kuno würden in wenigen Wochen zum ersten Male zur Schule gehen.
Andere Gedanken kamen und gingen. Goldköpfchens erster Schultag. Wie hatte die Kleine damals voller Angst diesem Ereignis entgegengesehen; Martin und Kuno hingegen freuten sich darauf, mit anderen Kindern lernen zu dürfen; Goldköpfchen war noch heute, obwohl es zehn Jahre zählte, kein Freund des Schulunterrichts und lernte nur mit innerem Widerstreben. Da Bärbel aber außerordentlich begabt war und dem Kinde alles zuflog, strengte es sich auch gar nicht an. Was in den Stunden durchgenommen wurde, behielt es, und die häuslichen Arbeiten wurden meist rasch und flüchtig erledigt.
Wie oft war Bärbel schon wegen Trägheit bestraft worden; Frau Wagner wußte, daß ihre Tochter etwas leisten konnte, wenn sie wollte; aber Bärbel wollte nun einmal nicht. So hoffte die Mutter auf die Zukunft, denn schließlich mußte das wilde Kind doch einmal einsehen, daß ohne Lernen und ohne Fleiß kein Mensch durchs Leben kam. Trotz allem hatte Fräulein Greger das süße Goldköpfchen über alle Maßen gern. Bärbel gab so logische Antworten, konnte so drollig sein, daß der Grimm der Schulvorsteherin sehr rasch wieder verflog. Mitunter wurde sie freilich bis zur Verzweiflung gebracht, wenn Bärbel vor sich hinträumte, bei einer Anfrage zusammenschreckte und dann eine vollkommen verkehrte Antwort gab.
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