Ganze Bücher hätte Frau Wagner über Bärbels Unaufmerksamkeiten schreiben können. Das ungereimteste Zeug schrieb das Kind zusammen, es überlegte nie; und so kam es auch, daß bei Diktaten Fehler auf Fehler zu finden waren, weil Bärbel nicht nachdachte. Frau Wagner hatte sich oftmals das Lachen verbeißen müssen, wenn sie die Hefte Goldköpfchens durchsah. Erst kürzlich hatte das Kind beim Diktat eines Gedichtes wieder den haarsträubendsten Unsinn niedergeschrieben. Noch jetzt ging ein Lächeln über Frau Wagners Gesicht, wenn sie daran dachte.
»Der König lag im Sterben«, hatte Fräulein Fiebiger diktiert, »da rief er seinen Sohn, er nahm ihn an den Händen und wies ihn auf den Thron.«
Was hatte Bärbel geschrieben? »Er nahm ihn bei dem Hemde und blies ihn auf den Thron.«
Die Aufsätze des Kindes waren höchst merkwürdig.
Bärbel schrieb mitunter wahre Räubergeschichten nieder. Dann flocht das Kind aber auch geschickt irgendein Ereignis mit ein, das es gehört hatte. Augenblicklich war Goldköpfchen wiederum mit einem Aufsatz beschäftigt. Absichtlich half Frau Wagner nicht, denn dieser Aufsatz sollte ausschlaggebend sein für die Osterzensur und die Versetzung.
Dieser Versetzung schaute man im Wagnerschen Hause freilich mit Sorgen entgegen. Fräulein Greger hatte bereits angedeutet, daß es ihr kaum möglich sein werde, Bärbel in eine höhere Klasse zu schieben, weil das Kind zu träge und gar zu unaufmerksam sei.
Der Vater hatte seiner Tochter strenge Strafe angedroht, wenn sie mit einem schlechten Zeugnisse heimkäme. Bärbel war darauf zu dem Provisor Senftleben gegangen, dem guten, alten Freunde, der noch immer in Dillstadt in der Apotheke weilte.
»Was machen wir denn, wenn wir ein schlechtes Zeugnis mitbringen?«
»Du hast ja noch vierzehn Tage Zeit, Bärbel, setze dich auf die Hosen.«
»Das nützt nichts mehr, Onkel Senftleben, gibt es denn kein Mittel?«
»Nur fleißig lernen, Bärbel!«
»Das nützt auch nichts mehr, aber – wenn ich ein schlechtes Zeugnis bringe, mußt du mir ein schmerzstillendes Mittel geben, Onkel Senftleben.«
»Ach so – du meinst wegen der Prügel, die es dann gibt? Gut, ich werde ein großes Pflaster bereit halten. Ich denke aber, du wirst vernünftig sein und in den beiden letzten Wochen noch recht gut aufpassen. Ich schenke dir eine Mark, wenn du versetzt wirst.«
Bärbel legte den Kopf mit den goldenen Locken auf die Seite. »Onkel Senftleben, das Geld können wir uns sparen, ich will dich nicht berauben.«
»Aha – du weißt also schon genau, daß du nicht versetzt wirst?«
»Ja«, nickte das Kind, indem es treuherzig zu dem Provisor ausschaute, »ich weiß es.«
»Ihr seid ’ne nette Schwefelbande, der Joachim schreibt auch, daß er sitzenbleiben wird. Warum macht ihr denn den Eltern keine Freude?«
»Wenn die Zwillinge jetzt zur Schule gehen werden, lernen sie für mich mit. Wenn ich zweie wäre, ginge es auch viel besser mit dem Lernen. Der eine weiß dann immer das, was der andere nicht weiß.«
»Du bist ein Faulpelz, Goldköpfchen, ich hoffe aber doch noch, daß du versetzt wirst.«
Bärbel schüttelte energisch den Kopf und eilte davon.
Für wenige Augenblicke nahm sich Goldköpfchen vor, in den letzten vierzehn Tagen etwas besser zu lernen.
Der Vater konnte sehr böse werden, wenn die Zensur zu schlecht ausfiel. So saß das Kind auch jetzt über dem Aufsatz und schrieb Seite um Seite. Das Thema, das die Lehrerin gegeben hatte, war recht interessant. Fräulein Greger hatte den Kindern die Sage von Elsa und Lohengrin erzählt, da gab es manches zu schreiben. Vom Grammophon her kannte Bärbel allerlei Teile, wußte genau, was Lohengrin gesagt hatte, und schrieb mit roten Bäckchen die Sage nieder, so, wie sie es für gut und richtig hielt.
»Nun atme mit mir die süßen Düfte, Elsa, bis ich mich berausche. Und dann feierten sie Hochzeit, worauf Elsa den Gemahl fragte: sage mir doch, welchen Geschlechts du bist. Aber er schwieg, er dachte an den Schwan, der ihn hergezogen hatte und der auch schweigen mußte. Denn wenn ein Schwan singt, muß er sterben. Außerdem hatte der König, der den Gral behütete, gesagt: wehe dir, wenn du unser Schloß verrätst! So schwieg Lohengrin, obgleich Elsa ihn immer mehr drängelte, denn sie wollte durchaus sein Geschlecht wissen. Während der ganzen Nacht ließ sie ihn nicht schlafen, forschte immer weiter, ob sie nicht doch was herauskriegen könnte. Da packte sie Lohengrin, trug sie vor den König und sang: im fernen Land, unnahbar euren Schritten, steht meine Burg. Die Burg hatte einen sehr merkwürdigen Namen, damit sie keiner fand. Und als man dann Lohengrin immer weiter drängelte, schrie er ganz laut: mein Vater Parsival trägt dort die Krone, und ich bin der Kronprinz Lohengrin. Dann sagte er zu Elsa: nun weißt du es, und nun fahre ich wieder ab. Damit war die glückliche Ehe geschieden, und Elsa fiel weinend um.«
Zufrieden betrachtete Bärbel ihr Werk. Der Aufsatz war vierundeinehalbe Seite lang geworden, und Fräulein Greger würde gewiß zufrieden sein. Vielleicht wurde sie daraufhin doch noch versetzt. Vor der öffentlichen Schulprüfung, zu der auch Mutti kommen wollte, bangte Goldköpfchen allerdings. Das Kind konnte sich nun einmal nicht sammeln, es gab stets so viele Dinge, von denen sie abgelenkt wurde, die auch viel interessanter waren als die Fragen, die gestellt wurden. Das Schlimmste aber war, daß ein ganz fremder Herr in die Schule kam und selbst Fragen stellte. Fräulein Greger hatte davon gesprochen, daß es ein Schulrat sei, und daß man sich in seiner Gegenwart ganz besonders zusammennehmen müßte.
Bärbel seufzte tief auf. Maria Koch wußte immer eine Antwort zu geben. Selbst wenn sie nicht richtig war, wußte sie den Fehler zu beschönigen. Sie würde auch ganz bestimmt versetzt werden. Bärbel tröstete sich mit Georg Schenk, von dem sie ganz genau wußte, daß er sitzenblieb. Das war eigentlich recht nett, denn mit Georg trieb sie allerlei Tauschgeschäfte. Der brachte bunte Bilder, Buchumschläge, Pappen, Bindfaden, buntes Papier und dergleichen, und das alles wurde ganz heimlich unter der Schulbank angestaunt und vertauscht. Bärbel gab dafür Flaschenkorken, leere Schachteln, Etiketten, kleine Dosen und andere Dinge, die sie sich von Onkel Senftleben erbat. Mitunter gab es freilich auch Streit, denn Georg Schenk behauptete immer, daß er von Bärbel betrogen werde. Aber die Feindschaft dauerte niemals lange; schon nach Verlauf von wenigen Minuten war der Frieden meist wiederhergestellt.
Die letzten Tage vor der Prüfung waren emsiger Arbeit gewidmet, denn Fräulein Greger wollte durchaus, daß der Schulrat einen guten Eindruck von allen Klassen bekam. Die vier Schüler der sechsten Klasse machten ihr viel zu schaffen. Dort leistete eigentlich nur Maria Koch etwas, die aber auch häufig falsche Antworten erteilte. Georg Schenk war derjenige, der den Ton angab und dem sich die drei Mädchen willig fügten. So hatte Fräulein Greger ihren beiden Lehrerinnen diese Klasse ganz besonders ans Herz gelegt, denn sie fürchtete eine Blamage.
Fräulein Fiebiger gab sich die erdenklichste Mühe. Sie wußte freilich nicht, in welchen Fächern der Schulrat prüfen würde, sie hatte gehört, daß er mit seinen Fragen auf jedes Gebiet zu sprechen kam, und so bestand die Gefahr, daß die falschen Antworten nur so hagelten.
Besonders Bärbel und Georg wurden oft von ihr gefragt. Es war ganz sicher, daß dem Schulrat dieses süße Kind mit den goldig glänzenden Locken auffallen mußte, und daß er die herzige Kleine, die ein so freundliches Gesichtchen hatte, häufig aufrufen würde. Wenn Bärbel bei der Prüfung genau so wenig aufpaßte wie an anderen Schultagen, war das Schicksal der ganzen Klasse besiegelt.
Bärbel hatte sich allmählich an den Gedanken gewöhnt, daß sie bei dem Schulrat doch nichts wissen würde; und da nun Fräulein Fiebiger in ihrer Erregung den Schulrat als einen sehr gestrengen Herrn schilderte, lächelte Goldköpfchen überlegen.
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